Notbremsassistenten in Lkw Fatale Entscheidung am Stauende - Teil 2

Vier Tote bei furchtbarem Unfall auf A6 - Lkw rast in Stauende Foto: NEWS5 / Lange

Der von einem inzwischen verurteilten Lkw-Fahrer verursachte tödliche Auffahrunfall auf der A6 wirft Fragen auf, wie die Übersteuerung der Notbremsassistenten moderner Lkw abläuft.

Zwei Jahre und neun Monate Gefängnis für einen deutschen Lkw-Fahrer, nachdem er im vergangenen Mai auf der A6 vor dem Kreuz Nürnberg-Ost eine fatale Entscheidung getroffen hat: Rund 120 Meter vor einem Stauende auf der rechten Fahrbahn übersteuerte er nach Ansicht des Amtsgerichts Hersbruck den Notbremsassistenten (hier: Advanced Emergency Breaking, kurz AEB) seines praktisch neuen Scania R410 nach dem Warnton und deaktivierte ihn dadurch für Sekunden.

Wie die Übersteuerung erfolgte, ob durch Kick-Down oder Bremsen, konnte das Gericht nicht ermitteln, der Fahrer gab an, sich an die Sekunden vor dem Unfall nicht mehr zu erinnern. Der Lkw raste mit 85 km/h nahezu ungebremst in das Heck eines bulgarischen Sattelzuges und zermalmte dabei das Auto einer fünfköpfigen Familie aus Vaihingen, das dazwischen geriet. Nur einen Grund konnte das Gericht belegen: Ablenkung durch sekundenlangen bewussten Blickkontakt mit einem damals 15jährigen Mädchen in einem Kleinbus auf der linken Spur.

Warnung vor gefährlichen Lkw im Fernsehen

Die Zahl der schweren Lkw-Unfälle an einem Stauende bleibt hoch, bis zu dreimal pro Werktag kracht es heute nach den regionalen Unfallmeldungen im Internet, und zwar meist vor Baustellen. Es sind diese Unfälle und ihre oft schweren Folgen, die nun immer öfter ins Licht der Fernsehberichterstattung gelangen. Erst wieder am 17. Juli hat der SWR in seiner Sendung Marktcheck die durchaus verständliche Furcht vieler Pkw-Fahrer vor der Gefahr in ihrem Nacken durch eventuell abgelenkte Lkw-Fahrer beschrieben. Eine Aussage der Polizei darin: Immer wieder schalten Lkw-Fahrer ihren Notbremsassistenten aus.

Ausstattungsquote bei rund 30 Prozent

Allerdings, sagt Dr. Erwin Petersen von der Landesverkehrswacht in Niedersachsen, muss zunächst einmal dieses pauschale Urteil hinterfragt werden. Erst seit November 2015 sind Notbremsassistenten in Lkw gesetzlich vorgeschrieben, und wie ich bereits in meinem Blog "Freiheitoder Sicherheit" beschrieben habe, dürfte laut Petersen die Ausstattungsrate für in Deutschland registrierte Lkw über 7,5 t bis zum Ende 2016 erst einmal auf über 40 Prozent gestiegen sein. "Für die schweren Lkw im Fernverkehr mögen sogar 50 Prozent erreicht sein", so Petersen. Mit einem Haken: "In Osteuropa gilt diese gesetzliche Ausstattungspflicht auch, jedoch werden dort viele gebauchte Lkw länger weiter gefahren. Dementsprechend schätze ich die europaweite Ausstattungsrate zu Ende 2016 auf rund 30 Prozent."

Viele Unfälle könnten durch Notbremsassistenten beeinflusst werden

Auch interessant: In einer Sonderauswertung mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) hatte Petersen insgesamt 1.707 Unfälle mit Personenschaden und Lkw-Beteiligung genau betrachtet. 566 davon waren Unfälle mit Lkw, bei denen ein AEBS-System (Advanced Emergency Braking System) Einfluss hätte nehmen können. Allerdings verlangt es weder die bestehende gesetzliche Grundlage aus dem Jahr 2015 noch die kommende Vorschrift für das Jahr 2018, dass Lkw mit einem Notbremsassistenten (NBA) vor einem stehenden Hindernis zum Stillstand abbremsen müssen. Einige Hersteller werben damit, dass ihre Lkw es unter idealen Bedingungen können. Eine Garantie gibt es nicht. Erschwert wird die Problematik, dass man etwa den Actros mit dem einfachen Active Brake Assist (ABA) bestellen kann, der die gesetzlichen Bedingungen aus dem Jahr 2015 erfüllt, und nur gegen Aufpreis im "Safety Pack" den ABA 3 und jetzt ABA 4, der laut Hersteller bis zum Stillstand bremsen kann.

Vielfache Unkenntnis über die Wirkung von Notbremsassistenten

Scania hat die Wirkungsweise seines Systems bereits 2013 in einem Film festgehalten. Etwas aktueller ist der Clip von MAN zur Einführung von EAB 2. Extra für FERNFAHRER hat Dr. Erwin Petersen in einem wirklich informativen Wissensblatt einige wesentliche Fakten zusammengetragen, in welchen Situationen ein NBA reagiert.
Dieses Wissensblatt steht in Zusammenhang mit einer Reportage im Heft 3/2017.

Der Berufskraftfahrer Axel Flaake wollte wissen, wie sein in einem neuen MAN verbauter Notbremsassistent (hier: EBA 2) wirklich funktioniert. "Denn die Aufklärung der Fahrer durch die Hersteller und die Unternehmer ist eher theoretisch", bemängelte Flaake. "Das Übersteuern des Notbremsassistenten ergibt in bestimmten Situationen schon Sinn, wenn der Fahrer mit dem System in der Praxis vertraut ist. Doch das sind leider eher die wenigsten."

Reaktionen von Fahrern auf Facebook

Auf der Facebookseite von FERNFAHRER hat der Unfall auf der A6 einige Reaktionen hervorgerufen. "Es besteht bei vielen Systemen noch Nachbesserungsbedarf", schreibt etwa Robert Wittmann, "denn wenn ich durch "Antippen" das System übersteuern kann, dann bringt mir das System nichts, vor allem muss die Warnung in meinen Augen vor einem Hindernis weiter bestehen bleiben und nicht durch das "Antippen" abgebrochen werden. Das alleine ist für mich schon technisch gesehen eine Fehlentwicklung, denn der Abstandswarner ist nicht umsonst verbaut." Und Frank Bader schreibt: "Das Grundproblem besteht darin, dass die meisten Systeme nicht in der Lage sind, "Hindernisse" differenziert zu erkennen. Ein Fahrzeug ist für den Assistenten das Gleiche wie eine Schilderbrücke. Solange die verschiedenen Systeme dies nicht unterscheiden können, ist eben die Aufmerksamkeit der Fahrer gefragt."

Übersteuerung erlaubt

In der Tat sind auf der Autobahn nun höchst verschiedene Entwicklungsstufen dieser Systeme unterwegs, manche Fahrer verwechseln sie zudem noch mit dem Abstandsregeltempomaten (ACC). Grundsätzlich arbeiten alle NBA-Systeme in einer dreistufigen Kaskade: Es folgt eine Warnung, wenn der Fahrer nicht reagiert, eine Teilbremsung. und wenn er immer noch nicht reagiert, eine Vollbremsung. "Nach dem Wiener Übereinkommen, den ECE/EU-Vorschriften und dem allgemeinem Verständnis muss der Fahrer die AEBS-Funktion und speziell die Notbremsfunktionen übersteuern können", betont Petersen. "Dazu soll der Fahrzeug-Hersteller geeignete bewusste Fahrer-Maßnahmen festlegen und diese etwa im Handbuch auch klar beschreiben. Ein Kick-Down und real eingeleitete Lenkmanöver während der Warnphase werden beispielsweise als sinnvolle Maßnahmen angesehen."

BGL fordert einheitliches System

Der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) forderte bereits 2016 in einer Pressemeldung, dass eine manuelle Abschaltbarkeit durch den Fahrer bis zum nächsten Starten des Motors entweder nicht mehr zugelassen sein sollte oder nur noch für eine begrenzte Zeit mit automatisierter Reaktivierung. Außerdem sollte nicht mehr möglich sein, dass ein bereits eingeleiteter Notbremsvorgang zum Beispiel durch versehentliches Betätigen des Blinkers oder Ausweichlenkbewegungen abgebrochen wird. Überdies müssten die Systeme der verschiedenen Hersteller in ihrer Bedienung vereinheitlicht werden, um auch bei kurzfristigem Fahrzeugwechsel ein gleichbleibend hohes Sicherheitsniveau zu ermöglichen.

Was passiert beim Übersteuern des Bremsvorgangs?

"Sobald der Notbremsassistent eine kollisionskritische Situation identifiziert hat", erläutert Petersen, "macht er eine ´Rückrechnung` und ermittelt, wann er spätestens voll bremsen muss, also wann er zuvor die ausreichend lange Warnphase auslösen muss." Wie man allerdings den Herstellerangaben am Ende dieses Blogs entnehmen kann, sind die Übersteuerungsmaßnahmen während der beiden Warnphasen (erst un-, dann teilgebremst) und während der bereits ausgelösten Notbremsphase unterschiedlich. Wenn der NBA (nach den Warnphasen) die Notbremsphase bereits eingeleitet hat, lässt sich diese bei den meisten Herstellern und bei aktuellem Stand nur noch durch einen Kick-Down (bzw. eine heftige Fahrpedalbetätigung) übersteuern oder abbrechen. "Ein Ausweichen wäre dem Fahrer dann physikalisch, also ohne Umkippen des Fahrzeugs, nicht mehr möglich", meint Petersen.

In den davor gelagerten beiden Warnphasen wäre ein Ausweichmanöver eines geübten Fahrers wohl noch möglich. "Deshalb kann in diesen Phasen der Notbremsassistent in der Regel auch durch ein Lenkmanöver und die Bremspedal-Betätigung übersteuert oder abgebrochen werden", sagt Petersen. "In einigen Fällen auch durch das Betätigen des Blinkers. Hätte also der Scania-Fahrer in diesem Fall sein AEB nicht durch seine Aktionen gestört, wäre der Vorgang wahrscheinlich kollisionsfrei oder kollisionsarm geblieben." Petersen hält solche Funktionen daher für unglücklich. "Fahrer sind ja nicht immer so bewusst abgelenkt, wie in diesem Fall. Manchmal genügt ja schon das Auslesen der Rest-Lenkzeit aus dem Kontrollgerät."

Die Verantwortung trägt immer der Fahrer

Die Hersteller sind dazu verpflichtet, die Funktion ihres Systems in der Betriebsanleitung genau zu beschreiben – Fahrer sollten sie allerdings auch lesen. "Trotz sehr umfassender Entwicklungsarbeit und neuester Technologie ist und bleibt es entscheidend, dass der Profi am Lenkrad selbst eine eigene Beurteilung vornimmt und die Kontrolle über seinen Lastzug behält", heißt es etwa bei Scania. Entscheidend ist: "Eine Warnung des Systems über ein höheres Aufprallrisiko bei statischen oder beweglichen Gegenständen kann der Fahrer drei Sekunden lang ausblenden, indem er in Zusammenhang mit einem Überholmanöver das Gaspedal bis zur Kick-down-Position durchtritt." Und weiter: "Der Fahrer kann auch Aufprallwarnungen dadurch zurückhalten, indem er die Bremse aktiviert oder indem er seinen Blinker betätigt. AEB interpretiert dies so, als sei sich der Fahrer der Situation bewusst."

Unterschiedliche Philosophie der Hersteller

Zu dem oben beschrieben Unfall wollen sich die übrigen sechs Hersteller nicht äußern. Alle individuellen Maßnahmen der Hersteller hier zu schildern, würde auch den Rahmen dieses Blogs sprengen. Ich verweise daher noch einmal eindrücklich auf die jeweiligen Handbücher. Dort muss es genau drin stehen. Allerdings gibt es beispielsweise beim Actros mittlerweile eine andere Philosophie, nachdem einige Unfälle mit dem ABA 3 analysiert wurden.

Von Daimler heißt es zum Systemwechsel von ABA 3 zu ABA 4: "Grundsätzlich führen Fahreraktionen, die widersprüchlich zum Systemverhalten sind, zum Übersteuern oder Abbruch der Warn- oder Notbremsphase. Eine akustische Warnung oder Teilbremsung kann durch Betätigen des Fahrpedals oder Ausweichen (Lenken oder Blinker) übersteuert werden. Eine Notbremsung kann nur noch per Kickdown oder Systemtaster abgebrochen werden. Bei Betätigung der Betriebsbremse (Bremspedal) bleiben mit ABA4 alle Systemreaktionen aktiv." Für die Mehrheit der Actros-Fahrer heißt das aber: Aufpassen, was im Handbuch steht!

MAN hat sich mittlerweile sogar dazu entschlossen, "das System bei seinen Lkw seit April 2017 serienmäßig nicht mehr per Taster abschaltbar zu verbauen, um den Sicherheitsgewinn durch das System weiter zu erhöhen. Dabei ist die vollständige Kontrolle des Fahrers über das System weiterhin jederzeit gewährleistet." Grundsätzlich unterscheidet das Notbremssystem EBA2 zwischen einem Fahrereingriff vor (Unterdrückung) und nach (Übersteuerung) Beginn des Eingriffs. Dazu zählt auch, das Bremspedal der Situation angemessen zu betätigen, so dass die Situation vollständig entschärft wird. "Diese MAN-spezifische Warnphilosophie gewährleistet eine hohe Fahrerakzeptanz. Das Zusammenwirken von zwei Technologien, Radar und Kamera, reduziert die Gefahr von unberechtigten Warnungen in sehr hohem Maße, da zwei Technologien für die Objekterkennung genutzt werden können. Damit erreicht MAN das Ziel, den Fahrer möglichst wenig durch Warnsignale zu irritieren."

Bei DAF kann der Fahrer theoretisch mit vier bewussten Gegenmaßnahmen den Notbremsassistenten "übersteuern" – oder besser noch: deaktivieren. 1.)  durch schnelles Drücken des Gaspedals (0->80%), 2.)  durch einen Kick-Down, 3.) durch Setzen des Blinkers als Ankündigung eines Ausweichmanövers (kurz vor oder auch während des AEBS-Eingriffs), oder 4.) durch Deaktivieren des AEBS-Schalters auf dem Armaturenbrett. Auch durch das aktive Bremsen des Fahrers bleibt das AEBS aktiv. Ab dem Zeitpunkt des Erkennens der Gefahr wird optisch im Hauptdisplay der digitalen Anzeige vor rotem Hintergrund gewarnt. Daneben ertönen gleichzeitig laute Warntöne. Das Fahrzeug leitet im zweiten Schritt eine Teilbremsung mit 3m/s² ein, was den Fahrer neben der Verzögerung zusätzlich haptisch warnt.

Bei Volvo gab es in der Frage der Übersteuerung schon immer eine klare Linie: Das Fahrzeug wird nach der Kollisionswarnung und einer Vorbremsung (3,5m/s²), welche eine Sekunde vor der eigentlichen Notbremsung (8 m/s²)  eintritt, abgebremst. Zum Zeitpunkt der Vorbremsung kann der Ablauf nur durch einen Kick-Down oder ein Lenkmanöver des Fahrers abgebrochen werden. Außerdem dann, wenn das System erkennt, dass die Gefahr nicht mehr besteht. Der eigentliche Notbremsvorgang (eine Sekunde vor Kollision) kann nur noch durch Betätigung des Kick-Downs, also indem das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten wird, vom Fahrer abgebrochen werden.

Renault greift seit der T-Baureihe auf dasselbe System zurück wie Volvo, auch hier kann nicht durch Bremsen übersteuert werden.

Iveco schließlich unterscheidet zwischen der Vorwarnkaskade und der eigentlichen Notbremsphase. In der Vorwarnkaskade kann der Vorgang durch Kickdown bzw. Vollgas, Lenken und Blinkersetzen abgebrochen werden; in der Notbremsphase nur durch Kickdown bzw. Vollgas sowie Lenken. Bezüglich Lenken ist nicht das Vorhandensein einer Bewegung am Lenkrad entscheidend, heißt es, sondern die daraus resultierende Bewegung des Fahrzeugs. Erst wenn die Fahrzeugbewegung dazu führt, dass das Ziel nicht mehr auf Kollisionskurs ist, wird abgebrochen.

Auch bei Iveco wird der Notbremsvorgang durch das Bremsen des Fahrers nicht abgebrochen. Im Gegenteil: Der Notbremsassistent verstärkt die von ihm eh schon vorgesehene Verzögerung, heißt es aus München. Der Wunsch des Fahrers wird als Bestätigung der Situationserkennung gesehen, beim Vollbremswunsch des Fahrers am Bremspedal gewinnt die stärkere Verzögerungsanforderung. Zur Abschaltung des EBA sieht IVECO keine Veranlassung, da in allen Fällen einer elektronisch angeforderten Bremsung ein Sicherheitskonzept greift, das auch den nachfolgenden Verkehr berücksichtigt.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
Rechtsanwalt Matthias Pfitzenmaier Matthias Pfitzenmaier Fachanwalt für Verkehrsrecht
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