Prof. Dr. André Ludwig: Eine Grundvoraussetzung für die großflächige digitale Vernetzung ist ja zunächst einmal die Verfügbarkeit der entsprechenden digitalen Infrastrukturen. Ohne die entsprechenden Breitbandnetze, sei es mobil oder auch im Festnetz, sind intelligente Verkehrssysteme nicht möglich. Ob sich Geräte miteinander vernetzen, über die Cloud immer und überall auf Daten und Anwendungen zugreifen oder zur Kommunikation eingesetzt werden – ohne Netzinfrastrukturen geht nichts davon. Hier liegt Deutschland leider nur im europäischen Mittelfeld, viele Gegenden sind nur unzureichend ans Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen. Da sieht es in den Benelux-Ländern oder in Skandinavien schon deutlich besser aus.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie die Vernetzung überhaupt umgesetzt werden kann. Der Logistikmarkt ist stark fragmentiert, es gibt in Deutschland viele kleine und mittlere Transportunternehmen. Entsprechend zersplittert ist auch die IT-Systemlandschaft. Viele Unternehmen arbeiten mit klassischen Office-Programmen wie Excel und Word. Ihre Mitarbeiter telefonieren, faxen und schreiben E-Mails, sie setzen dabei auf historisch gewachsene Abläufe und Prozesse. Workflowsysteme oder professionelle Logistik-Softwaresysteme werden noch zu wenig eingesetzt. Außerdem müssen wir uns, bevor wir über die Integration von IT-Systemen reden, erst einmal die Prozesse genauer anschauen und diese gegebenenfalls neu definieren. Zusätzliche Komplexität gewinnt die Integrationsaufgabe durch immer kürzere Kontraktdauern und individuelle Kundenwünsche seitens der Verlader. Das erfordert schnelle, flexible Lösungen.
Prof. Dr. Kai Hoberg: Wir müssen auch die Motivation der Unternehmen sehen: Warum sollten sie in Digitalisierung investieren? Ein Grund kann darin liegen, dass sie in der Digitalisierung die Möglichkeit sehen, Kosteneffizienzen zu heben oder mehr Umsatz zu generieren, indem sie beispielsweise die Anzahl an Leerfahrten senken. In kleinen und mittleren Unternehmen ist aber häufig nicht das Budget dafür da, mit den Chancen der Digitalisierung zu experimentieren. Deswegen tun sie nur das Nötigste – entweder weil es von Kunden und Partnern verlangt wird, oder weil sie einen direkten Mehrwert darin sehen. Ich glaube aber, dass es bis jetzt sehr schwierig ist, diesen Mehrwert für den Transportunternehmer zu identifizieren. Anforderungen des Kunden werden also umgesetzt, um im Geschäft zu bleiben. Gerade mit Blick auf den Mittelstand können dabei Industriestandards helfen. Das ist meiner Ansicht nach die grundsätzliche Herausforderung: Für eine erfolgreiche, weitere Digitalisierung muss es weitreichende Standards geben, die in der ganzen Industrie anerkannt sind und gelten.
Hoberg: Viele Anbieter agieren im Eigeninteresse. Sie wollen ihre eigenen Standards durchsetzen, weil sie sich im Markt davon Vorteile versprechen. Das steht einer übergreifenderen Standardisierung entgegen.
Ludwig: In einzelnen Branchen gibt es durchaus Bemühungen. Nehmen wir die Automobilbranche: Hier haben Hersteller und Zulieferer gemeinsam im VDA Standards zur elektronischen Übertragung zum Beispiel von Sendungsdaten und Lieferabrufen erarbeitet. Oder der Lebensmittelbereich, wo beispielsweise die GS1 zahlreiche Standards anbietet. Tatsächlich passen Unternehmen diese Standards aber immer wieder für eigene Zwecke an und erschweren damit deren breite Nutzung. Auch Barcodes auf Packstücken sind davon betroffen. Die Global Transport Labels (GTL) im Automobilbereich sind ein richtiger Schritt in deren Standardisierung.
Hoberg: Dieses Eigeninteresse von Unternehmen kann auch noch andere Nachteile haben. Nehmen wir einmal die Transportplattformen, die Leerfahrten vermeiden sollen. Eigentlich sollen hier ja freie Laderaumkapazitäten vermittelt werden. Wenn aber die Transportunternehmer Sorge haben, dass sie ihre eigenen Kunden verlieren könnten, dann werden sie sicher nicht mitmachen – und die Plattform wird sich in der Folge nicht durchsetzen können.

Ludwig: Zunächst einmal müssen sie die erforderliche Schwungmasse erreichen, indem eine hinreichende Anzahl von Anbietern mitmacht. Außerdem sollten sie einen gut nachvollziehbaren Mehrwert schaffen. Beachten sollten Unternehmen auch, dass sie nicht von neuen Marktteilnehmern überholt werden. Viele neue Anbieter von Logistikplattformen, häufig Start-ups, kommen gar nicht aus dem Transportbereich und rollen den Markt neu auf. Nehmen wir das Beispiel Fahrzeugortung: Da sind wir im Personentransport, etwa bei Uber, oder im Flug- und Schiffsverkehr deutlich weiter. Hier ist es selbstverständlich, dass wir uns über verfügbare Kapazitäten und deren Position in Echtzeit informieren können. Diese Sichtbarkeit und dynamische Buchbarkeit von verfügbaren Transportkapazitäten gibt es im Straßengüterverkehr noch nicht.
Hoberg: Für den Transportbereich besteht ein Lösungsansatz im Physical Internet als Konzept für ein optimiertes, standardisiertes und weltweites Güter-Transportsystem. Das Physical Internet ist das konsequente Weiterdenken des vernetzten Transports. Die Idee dahinter ist, die Prinzipien des virtuellen Transports von Daten über das Internet auf den realen Transport von Gütern zu übertragen. Wenn ich das Internet nutze, dann ist mir ja erst einmal egal, auf welchem Weg genau die Bits und Bytes geroutet werden, die ich sende und empfange. Mir ist nur wichtig, dass sie schnellstmöglich von A nach B gelangen. Im Physical Internet ist es dem Verlader egal, auf welchem Weg genau die Ware von einem Ort zum anderen gelangt. Die wesentlichen Kriterien sind vielmehr, die Transportgüter für einen möglichst günstigen Preis und zu einem genau definierten Zeitpunkt am Zielort zu haben. Zu diesem Zweck muss beispielsweise ein Container mit seinem Transportmittel kommunizieren können und diesem mitteilen, wann er wo sein soll. Das wird dann allerdings zu einer weiteren "Commoditisierung" der Logistik führen: Die Transportdienstleistung verliert an Differenzierung und wird vom Kunden zunehmend als austauschbar wahrgenommen.
Ludwig: An der Kühne Logistics University sind wir im Rahmen des europäischen Forschungsnetzwerks ALICE (Alliance for Logistics Innovation through Cooperation in Europe, d. Red.) an der Forschung dazu beteiligt. Das Physical Internet ist eine Realisierung des Internets der Dinge: Eindeutig identifizierbare Objekte erhalten eine Repräsentanz in der virtuellen Welt. Bei diesen Objekten handelt es sich allerdings nicht um die zu versendenden Güter selbst, sondern um intelligente Transportbehälter. Diese sind in der Lage, Informationen über ihren Inhalt zu speichern und Transportflüsse dynamisch und autonom zu optimieren, wobei vernetzte Umschlagpunkte das Routing übernehmen. Technologisch gesehen geht es vor allem darum, die dafür erforderlichen Kommunikationsstandards zu schaffen. Das soll in der Vision eine effizientere Transportwirtschaft durch einheitliche Ladungsträger und Kooperation bei Lagerung und Transport ermöglichen. Im Grunde ist es das konsequente Weiterdenken des vernetzten Transports, über den wir heute reden.
Hoberg: Für ein Physical Internet muss auch die Sensorik weiterentwickelt werden, die sich bislang vor allen Dingen auf die Bestimmung des Standorts von Fahrzeugen oder die Überwachung der Temperatur von Kühltransporten konzentriert. So ist beispielsweise eine Füllstandsanzeige in Containern denkbar: Unterschreitet der Bestand an Ware ein bestimmtes Limit, dann veranlassen die Container automatisch eine Nachlieferung. Dadurch verschwimmen nebenbei auch die Grenzen zwischen Lager und Transportbehälter.
Ludwig: Alle Unternehmen müssen sich damit auseinandersetzen, dass künftig weitestgehend Transparenz zu Angebot und Nachfrage nach Transportkapazität bestehen wird. Das wird dazu führen, dass höherwertige Dienste angeboten und bedient werden müssen, beispielsweise kundenindividuelle Dienste auf der letzten Meile. Die reinen Vermittlungsdienste werden aufgrund der Verfügbarkeit sämtlicher Daten, etwa zum Standort und zum Zustand des Transportguts, an Relevanz verlieren. Transportunternehmen sind also gut beraten, wenn sie nicht ihr "Business as Usual" weitermachen, sondern vor dem Hintergrund der verfügbaren Technologien darüber nachdenken, in welchem Bereich sie auch zukünftig Wertschöpfung generieren können.
Hoberg: Nehmen wir einmal die Logistikplattformen, die derzeit an zahllosen Stellen im Internet entstehen. Hier könnte es ähnlich wie in anderen Branchen auch bei den Logistik-anbietern zu einer umfangreichen Konsolidierungswelle kommen, nach dem Prinzip "The winner takes it all". Aus meiner Sicht sollten die Transportunternehmen deswegen möglichst schnell in digitale Plattformen investieren – und das trotz aller nachvollziehbaren Bedenken, damit das eigene Kerngeschäft zu kannibalisieren. Denn noch können sie mit einem frühen Marktstart vom Vorteil eines "First Mover" profitieren.