Sieber: Die Jahreszahl "2025" stand ja mit Bedacht hinter der Bezeichnung "Future Truck". Da konnte das Design also schon einen guten Schuss Futurismus vertragen. Natürlich muss man bei Konzeptfahrzeugen auch berücksichtigen, dass eben keine Facelift-Diskussionen angestoßen werden.
Sieber: Wenn Sie die Seitenpartie des Urban eTruck anschauen, dann sehen Sie gleich, dass die identisch mit unseren aktuellen Lkw ist. Somit illustrieren beide Fahrzeuge gerade eines sehr schön: Wie weit wir mit dem heutigen, puristischen Rohbau in die Zukunft gehen können.
Sieber: Sie dürfen eben gern auch ein wenig pointieren. Das Fehlen der Bewegungsfuge unterstreicht gewissermaßen die Andersartigkeit. Klar ist aber auch, dass der Nachfolger der heutigen Generation nicht genauso aussehen kann. Trotzdem ist bei diesen Fahrzeugen vieles angedeutet, was dem Bestehenden entspricht. Beim Future Truck 2025 sind das angedeutete Luftleitbleche oder das horizontale "Maul" zum Beispiel. Stellen Sie sich das Fahrzeug einmal mit Bewegungsfuge, mit etwas traditionelleren Scheinwerfern und Einlässen für die Kühlluft dort vor, wo sie hingehören. Dann kommt ein spannender Kompromiss dabei heraus.
Sieber: Es kommt ja nicht von ungefähr, dass wir dann auch mit diesen Kontrasten spielen und diese organischen Formen mit geometrischen Elementen verbinden. Generell gehören Kontraste zu den stärksten gestalterischen Mitteln überhaupt. So haben wir zum Beispiel auch im Future Truck noch eine Linie beibehalten, weil die Anmutung sonst zu amorph geworden wäre. Aber tatsächlich ist es so, dass wir uns jetzt erstmals seit den 50er-Jahren beim Lkw-Design wieder mehr an organischen Formen orientieren und die stark kubisch geprägte Formensprache hinter uns lassen. Das Schlagwort dafür lautet "Natural Attraction" und meint körperhaft anmutende, spannungsvoll-muskulös modellierte Formen, haptisch erfassbare Materialien, Farben und Stimmungen; was die Menschheit schon immer fasziniert hat und immer faszinieren wird.
Sieber: Er fügt sich trotzdem schon in dieses Konzept. Das können Sie bereits daran sehen, dass eben auch hinter oder unter der Fassade des Future Truck 2025 nichts anderes steckt als der Rohbau des heutigen Actros. Und obwohl dieses Fahrzeug konzipiert wurde, bevor die Designphilosophie der Sinnlichen Klarheit formuliert war, weist es doch schon deutlich in genau diese Richtung. Die Seitenpartie verzichtet zum Beispiel im Gegensatz zu den drei Generationen des Actros zuvor auf eine umlaufende Sicke, ist also viel klarer und reiner – und somit auch langlebiger – ausgeführt. Dann ist der Grill schwimmend gelagert und es sind im Vergleich zu vorher viele Fugen aus der Front verschwunden.
Sieber: Es geht zunächst einmal darum, ein ganzheitliches Design für das Erscheinungsbild sämtlicher Produkte von Daimler sowie des Unternehmens selbst zu schaffen. Dies beschreibt der holistische Ansatz der Designphilosophie. Im Fokus steht hierbei die Hauptmarke Mercedes-Benz, deren Diversifizierung laufend fortschreitet. Das ist einer der Gründe, warum ein konsequentes Design wichtiger denn je ist. Es hat das Markenversprechen überall zu transportieren. Beim Pkw ist es inzwischen so, dass den Ausschlag zum Kauf heutzutage in erster Linie das Design gibt. Ich bin jetzt nicht so vermessen, das auch vom Lkw zu behaupten. Aber auch da spielt der Eindruck eine Rolle, den der Lkw äußerlich macht. Das Design muss die für Mercedes typischen Marken-Werte verkörpern, die der Kunde zu Recht von uns erwartet. Also Dinge wie Langlebigkeit, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit, sprich Qualität, oder auch Wirtschaftlichkeit und Innovations-Führerschaft.
Sieber: Es kommt drauf an, was man draus macht, also wie man den Fokus worauf legt. Das Beispiel V-Klasse und Vito zeigt sehr schön, wie die Trennung der Sphären Pkw und Nutzfahrzeug selbst durch ein und das gleiche Grundfahrzeug gehen kann. Die V-Klasse verkörpert sowohl Intelligenz als auch Emotion und damit einen modernen Luxus, während der Vito mit Werten wie Funktionalität, Langlebigkeit und Solidität für eine moderne Klarheit steht. Mit Blick auf den Lkw wäre zu sagen, dass naturnahe Formen eben auch für Aerodynamik und Nachhaltigkeit stehen. Klar haben Nutzfahrzeuge längere Produktzyklen als Pkw. Dort werden wir deshalb stets mehr auf der "cleanen" Seite bleiben und kurzlebige Features nicht spielen.
Sieber: Beim Lkw-Design trifft dies in gewisser Weise den Punkt. Und dies war ja der ursprüngliche Ansatz des Bauhauses im frühen 20. Jahrhundert: eine Gegenbewegung zu der damals industriell produzierten, artifiziell überfrachteten Massenware. Genau diese Schnörkellosigkeit macht deren Produkte, wie zum Beispiel die berühmte Wagenfeld-Lampe aus den 30er-Jahren, so ungeheuer langlebig.
Sieber: Es gilt in der Tat, das Markenversprechen in Attribute umzusetzen und so Ikonen zu schaffen. Oder besser gesagt: diese immer wieder mit neuem Leben zu erfüllen, egal ob Actros, S-Klasse oder SL. Wichtig ist dabei auch eine gewisse Authentizität. Fatal wäre, wenn das Design mehr versprechen würde, als das Produkt zu halten in der Lage ist.
Sieber: Da tut sich eine ganz eigene Welt der Komplexität des Linienlosen auf; ich verweise nur auf die Seitenpartie des neuen E-Klasse-Coupés. Das ist wie bei einem Muskel eine Spielwiese reinsten Wassers.
Sieber: Beim Lkw ganz sicher nicht. Da hat Funktionalität, die sich ja letztendlich auf die Wirtschaftlichkeit auswirkt, prinzipiell Vorrang. Allerdings ist dies in Verbindung mit ansprechendem Design kein Widerspruch. Bestimmte organische Formen, um die es bei Sinnlicher Klarheit geht, sind ja auch in Hinsicht auf Aerodynamik zweifelsohne perfekte Vorbilder. So, könnte man sagen, schließt sich der Kreis beim Nutzfahrzeug.
Sieber: Guss mit Kunststoff erlaubt es zum Beispiel, technisch äußerst komplexe Produkte günstiger zu bauen als früher. Sonst aber habe ich eher den Eindruck, dass man heute unter Kostengesichtspunkten viele Finessen nicht mehr macht, die früher ohne Weiteres praktiziert wurden – wenn auch mit enormem Aufwand. Bei den Design-Tools gab es in den 90er-Jahren mal einen großen Hype mit CAD-Programmen. Aber dass wir wie schon in den 60er-Jahren erst einmal handwerklich mit Ton arbeiten, daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass 3D-Drucker künftig verstärkt eine Rolle spielen können. Damit ist es möglich, Sachen zu drucken, die nicht „entformbar“ sind, wie wir sagen. Damit rücken beispielsweise netzartige Strukturen in greifbare Nähe, die man bis jetzt nur aus der Natur kennt.
Sieber: Es könnte einem schwindlig werden bei dem Tempo, in dem die Technik marschiert. Noch nie standen der Branche so viele Umbrüche bevor wie in unseren Tagen. Wir haben da eine enorme Vielzahl an Diskussionen mit vollkommen offenem Ausgang. Um nur ein paar zu nennen: Was bedeutet die CO2-Reduktion einerseits für den Pkw, andererseits für den Lkw? Was kommt auf die Mobilität in Form der Vernetzung sowie des autonomen Fahrens zu? Wohin geht bei Pkw und Lkw jeweils die Reise mit der Elektromobilität?
Sieber: Da ist zum Beispiel das Thema zusätzlich erlaubte Länge des Lkw: Wäre das nur in bessere Aerodynamik umzumünzen oder vielleicht nicht auch in eine innen verlängerte und anders strukturierte Kabine, die das Berufsbild des Lkw-Fahrers attraktiver machen könnte? Die vielleicht aber auch deswegen anders auszusehen hätte, weil das autonome Fahren eine andere Nutzung, womöglich mit ganz anderen Schwerpunkten, mit sich bringt.
Sieber: Das ist ja beileibe noch nicht alles. Für strategische Entscheidungen ist die Sichtweite obendrein erheblich zurückgegangen. Es hat schon einigen Mut erfordert – wie jetzt geschehen –, eine neue Kabinen-, Chassis- und Motorengeneration, alles auf einmal, neu zu entwickeln. Künftig wird es noch weniger Reaktionszeit geben, aber die Investitionen müssen sich ja trotzdem rechnen. Strategische Entscheidungen werden also nicht leichter.
Sieber: Und genau darum geht es, Gegensätze – die Bipolarität aus Emotion und Intelligenz – perfekt zu verbinden. Unsere Produkte sind gleichzeitig hot und cool. Dies ist sozusagen die adäquate Antwort auf all diese externen Gegebenheiten. Wir hatten tatsächlich noch nie eine so klare Fernsicht wie mit unserer Designphilosophie. Sie ist einerseits Vision und bietet andererseits fein abgeschmeckte Rezepturen, gleichzeitig aber auch klar definierte Richtlinien. Diese werden bei jedem Fahrzeug entsprechend anders interpretiert in die Tat umgesetzt, sodass dessen Herkunft stets erkennbar bleibt. Es ist tatsächlich so: Je stärker sich die Sicht auf das verkürzt, was in der Gesellschaft auf uns zukommt, desto mehr Orientierung und Konsistenz gibt die Philosophie der Sinnlichen Klarheit unserem Design auf lange Sicht.
Das Gespräch führte Michael Kern.
Kai Sieber: Leiter Design Brands
Als er es mit Nutzfahrzeugen zu tun bekam, machte er als Erstes den Lkw-Führerschein. "Da wurde mir schnell klar, warum dort diese großen Spiegel notwendig sind, die mir vorher eher ein Dorn im Auge waren", sagt Kai Sieber. Nach dem Studium der Fahrzeugtechnik an der FH in München arbeitete Sieber als Ingenieur, absolvierte dann ein Aufbaustudium in der Sparte Transportation Design an der FH Pforzheim und wurde danach unter anderem bei Stile Bertone aktiv.
In die damalige Daimler-Chrysler AG trat der heute 50-Jährige im Jahr 2000 ein und übernahm zunächst die Funktion eines Design-Teamleiters bei Mercedes-Benz Cars. 2006 folgte die Position des Head of Design bei Daimler Trucks North Amerika. Zum Head of Design für Daimler Trucks und Mercedes-Benz Vans wurde Kai Sieber 2009 ernannt. Seit dem Jahr 2013 fungiert Sieber nun als Head of Design Brands für Daimler Trucks, Mercedes-Benz Vans sowie Smart.