Lkw-Fahrer erhebt Kündigungsschutzklage

Lkw-Fahrer erhebt Kündigungsschutzklage
Der einzige Zeuge

Ohne kompetenten Anwalt stand der Lkw-Fahrer Marcel Graf mit seiner Kündigungsschutzklage gegen die Spedition Wilking vor dem Arbeitsgericht Herne bereits auf verlorenem Posten. In der Verhandlung um eine vorgeworfene Erpressung glaubte der Richter am Schluss lieber dem Disponenten.

Der einzige Zeuge
Foto: Jan Bergrath

Der Satz stammt aus einem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) von 2020: „Selbst nach dem strengen Maßstab des Paragrafen 268 der Zivilprozessordnung (ZPO) bedarf es keines naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweises und auch keiner an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, vielmehr genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.“

So steht es, im Namen des Volkes, genau in der Mitte des am 23.07.2025 verkündeten 28 Seiten langen Urteils unter dem Aktenzeichen 5 Ca 466/25. Damit begründet der langjährige Vorsitzende Richter der 5. Kammer des Arbeitsgerichts Herne, Ulrich Nierhoff, unter anderem, warum „bei Anwendung dieses Maßstabs aus Sicht der Kammer kein vernünftiger Zweifel besteht, dass der Kläger gegenüber dem Zeugen K. die Zahlung einer zusätzlichen Vergütung für die Ausführung des Arbeitsauftrages gefordert hat. Der Zeuge hat die Äußerungen glaubhaft bestätigt.“

Alles dreht sich vor Gericht um eine Frage

Der Kläger heißt Marcel Graf. Bei der zusätzlichen Vergütung soll es sich um die angebliche Forderung Grafs nach einem Tankgutschein im Wert von 200 Euro gehandelt haben, um eine bereits begonnene Tour mit Bauteilen nach einem Disput mit der Disposition kurz vor dem Ziel fortzusetzen. Das sei, so das Urteil, eine Erpressung und damit eine grobe Pflichtverletzung, die eine fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber, die Spedition Wilking, rechtfertigt. Mit allen daraus folgenden Konsequenzen für den Fahrer.

So hat Graf, ein Lkw-Fahrer aus Waltrop im nördlichen Ruhrgebiet, wo die entscheidenden Protagonisten dieser Geschichte wohnen und arbeiten, diese Klage zunächst verloren. Die Spedition wurde zwar verurteilt, ihm aus seinen hohen finanziellen Forderungen 537,60 Euro nachzuzahlen, auf Grund seiner mehrfahren Klageerweiterungen, die er ohne einen kompetenten Fachanwalt immer wieder nachgeschoben hatte, stieg der Streitwert aber auf 111.808,63 Euro. Eine Berufung am Landesarbeitsgericht Hamm ist für ihn möglich.

Der Nebenkriegsschauplatz

Ich bin eher durch Zufall auf diesen Prozess gestoßen. Zunächst hatte die Waltroper Zeitung am 6. Mai nach dem Gütetermin über den Fall berichtet. Aufmerksam wurde ich erst Mitte Mai, nachdem der langjährige Lkw-Fahrer und YouTuber Kai Nußbaum, der als „German Truck Driver“ einer eigenen „Community“ mit beachtlicher Reichweite bekannt ist, dem durch die fristlose Kündigung für zwölf Wochen vom ALG I gesperrten Fahrer die Möglichkeit geboten hatte, dessen Geschichte zu veröffentlichen, um Grafs bereits begonnene finanzielle Unterstützung für eine neue anwaltliche Unterstützung auf der Plattform „GoFundMe“ weiter zu fördern. Was sicher ehrenhaft ist. Ich wusste, am Rande bemerkt, gar nicht, dass es das gibt.

Eine gefilmte Gegendarstellung bei Wilking in Waltrop

Unter der schriftlichen Vorgabe Nußbaums, als Mitglied der Bundesvereinigung der Fachjournalisten (BDFJ) der journalistischen Schweigepflicht zu unterliegen, ließ er sich nach einem ersten Kontakt über Instagram wichtige Dokumente zukommen, sicherte zu, diese nicht an Dritte weiterzuleiten und drehte danach ein Video, in dem Graf seine Vorwürfe ohne eine wirkliche Prüfung der Fakten durch den YouTuber schildern konnte. Danach bekam Nußbaum bis heute nicht genau belegte Hinweise, die ihn an der Glaubwürdigkeit Grafs zweifeln ließen, weshalb er sich reumütig im Rahmen einer „Gegendarstellung“ persönlich zur Spedition begab. In einem zweiten, vertraulich wirkenden Video ließ er sich von Henrik Wilking in dessen Büro über den großen Tisch zeigen, was angeblich bei zwei entscheidenden Vorfällen mit dem Fahrer Graf passiert sei. Um als Unternehmer die Reißleine zu ziehen. Das ist insofern bedenklich, da hier ein nebenberuflicher Fachjournalist, der kommerziell erfolgreiche Unterhaltungsvideos produziert, komplett die Seite gewechselt hat, ohne vorher nach Eingang dieser Hinweise wiederum den Fahrer noch einmal zu fragen, was es damit auf sich habe.

Daraus entwickelte sich bis heute ein aus journalistischer Sicht schwer zu ertragender Nebenkriegsschauplatz in den sozialen Medien, bei dem zum Teil wildfremde Menschen Urteile abgeben über Vorgänge, bei denen sie wohl kaum dabei waren. Und erschreckend über den möglichen Verbleib des Geldes schwadroniert wird. Auch wurden nach dem ersten Video offenbar Drohungen gegen Graf ausgesprochen, laut Graf auch aus dem Kreis seiner ehemaligen Kollegen. Durch zahlreiche Strafanzeigen gegen Nußbaum und eigene Posts auf Instagram, was ich allerdings nicht verfolge, ist Graf an dieser Eskalation im Netz nicht ganz unschuldig.

Live vor Ort in Herne

Letzten Endes hatte Graf zu mir Kontakt aufgenommen. Jessica Reisner vom Kölner Verein Arbeitsunrecht e.V. wiederum, war auf Grund des ersten Videos, das mittlerweile auf Druck Grafs gelöscht wurde, auf das Thema einer möglichen Betriebsratswahl aufmerksam geworden, die per se in Fahrerkreisen sehr umstritten ist. Dennoch hatten wir uns entschlossen, nach Herne zu fahren, um danach über den Ausgang des Verfahrens zu berichten.

Jan Bergrath

Jessica Reisner vom Kölner Verein Arbeitsunrecht e.V.

Im Gegensatz zu Kai Nußbaum, der nicht vor Ort war, sich danach dennoch in erschreckender Häme über das Urteil ausließ. Grafs – allerdings erst nach dem Gütertermin verpflichteter – Trucker-Anwalt hatte sich kurz vor Beginn des Verfahrens kurzfristig krankgemeldet. Ich persönlich, das noch vorweg, habe mich intensiv mit Marcel Graf unterhalten und im Vorfeld dieses Blog-Artikels auch die Spedition Wilking um Stellungnahme gebeten. Denn bereits bei dem zweiten Video bekam ich Zweifel an dem geschilderten Ablauf um einen Tankgutschein. Um den es letzten Endes im Verfahren in Herne hauptsächlich ging.

Die gelebte Praxis des Transportalltags

Seit November 2020 war Graf bei Wilking Transporte beschäftigt, die mit ihren Dienstleistungen, dem Transport von Betonteilen und Garagen sowie regionalen Winterdiensten als „Team Wilking“ unterwegs ist. Was nach Zusammenhalt klingt. Motto: Alle ziehen an einem Strang. Einen Betriebsrat brauchen wir hier nicht. Für die gute Stimmung sorgen jährliche Besuche des Truck-Grand-Prix. Die innerbetriebliche Kommunikation läuft zum Teil über WhatsApp-Gruppen. Da dringt auch schon mal etwas nach außen. Graf hat sich, das ist unbestritten, rechtschaffen und auch ehrenamtlich für das mittelständische Unternehmen mit heute rund 25 ziehenden Einheiten eingesetzt. Er war mit Innenladern unterwegs und hat mit seinem DAF in diesen fünf Jahren auch regelmäßig Betonfertigteile für ein Werk aus Waltrop transportiert, das, wie jede Spedition, im Wettbewerb unter Kostendruck steht.

Jan Bergrath

​Für die gute Stimmung bei Wilking sorgen jährliche Besuche des Truck-Grand-Prix.

Mehrere vom Werk vorgeladene Plateauauflieger pro Tag müssen von den Fahrern vor Abfahrt gesichert werden. Oft in der Nacht, um im Rahmen der Fahrzeit pünktlich am Morgen auf den Baustellen zu sein. In der Regel bei einer maximalen Breite von drei Metern pro Bauteil. Das ist Routine. Routine heißt eingeübte Abläufe. Sechs Gurte festzurren, Frachtpapiere aus der Box am Trailer holen, die letzte Seite als Beleg für die Abholung unterschreiben. Eingespielte Logistik auf Vertrauen mit einem Großkunden. Nur zweimal in sechs Jahren sei es vorgekommen, dass ein Bauteil breiter als diese drei Meter gewesen sei. So hatte es Grafs Disponent am 23. Juli bei seiner Anhörung vor dem Arbeitsgericht ausgesagt. Denn Ladungen darüber hinaus sind nur mit Sondergenehmigung und B3-Begleitung zu fahren. So eine Sondergenehmigung kostet 200 Euro. Ohne die Begleitung. Schon hier hätten die Richter eigentlich aufmerksamer zuhören müssen. Denn nach dieser Aussage wäre Grafs Tour tatsächlich nicht ganz der normale Ablauf gewesen.

Tribünentreppen für Niederkassel

Sie begann mit drei Tribünentreppen für eine neue Schule in Niederkassel bei Köln am 13. März 2025 um 3.55 Uhr auf dem Betriebshof in Waltrop. Im Tablett mit dem Programm „In Touch“ fand sich offensichtlich kein Hinweis auf die Überbreite der Ladung. Das wäre die Aufgabe der Disposition gewesen. Die ausführliche Begründung des Urteils, die hier jeden Rahmen sprengen würde, schildert anhand der vorherigen schriftlichen Eingaben die beiden strittigen Versionen. Nach Grafs Version habe er erst durch den Anruf eines namentlich genannten Kollegen, der ebenfalls mit Betonteilen zur selben Baustelle unterwegs war, von der nicht vorher bekannten Überbreite eines der drei Bauteile erfahren und daraufhin mit dem Disponenten sehr früh morgens über WhatsApp Kontakt aufgenommen, wo denn die dafür entsprechende Genehmigung sei. In der Tat steht dieses Maß auf dem Frachtbrief. Genau 3,0425 Meter. Sehr klein an dritter Position. Irgendwie wie untergeschoben.

Weitere Vorfälle

In der Version der Spedition hätte Graf die Tour kurz vor dem Ziel abgebrochen und die Weiterfahrt davon abhängig gemacht, mit einem Tankgutschein im Wert von 200 Euro weiterzufahren. Erst kurz zuvor war Graf mit einem Innenlader und einer nicht ausreichend gesicherten Ladung auf der A 1 bei Münster in eine Polizeikontrolle geraten. Das Fahrzeug, der Vorgang mit Bildern liegt mir vor, wurde schließlich mit einer Kralle stillgelegt. Auch weil der Innenlader trotz vorheriger HU-Abnahme in der eigenen Werkstatt Mängel aufwies. Ein zweites Mal, so Grafs Argument, wollte er nicht wieder mit der Polizei in Konflikt geraten. Am Ende, nach der Diskussion mit dem Disponenten, war er dann doch an Ziel gefahren. Dennoch war für den Richter, auch so steht es im Urteil, die vorherige mutmaßliche Erpressung nicht mehr gutzumachen.

Der einzige Zeuge vor Gericht

So kam es schließlich zu dem Augenblick im Arbeitsgericht Herne, in dem Graf, nach dem erneuten Versuch des Richters, eine gütliche Einigung zu erwirken, den finanziell für ihn nicht tragbaren finanziellen Vorschlag von 5.000 Euro als Vergleich ablehnte, mit etwas zu viel Siegessicherheit aufs Ganze setzte und die Vernehmung der Zeugen forderte. Wie sich wiederum im Nachhinein auf meine Nachfrage herausstellte, wurde seine Liste der Zeugen aus für mich nicht mehr nachvollziehbaren Gründen vom Gericht nicht berücksichtigt. Auch hier hätte ein kompetenter Anwalt schon im Vorfeld die Frage klären müssen. Selbst das hatte dieser offensichtlich unterlassen.

Das große Problem: Geschäftsführer Henrik Wilking, der die Kündigung ausgesprochen hatte, kannte den Vorwurf nur vom Hörensagen, also dem Disponenten, der wiederum den zweiten Disponenten, ebenfalls wohnhaft in Waltrop, als Co-Zeugen mitgebracht hatte. Dieser wurde aber vom Richter nach kurzer Beratung nicht zugelassen, weil er angeblich frühmorgens ab 7.25 Uhr den entscheidenden zehnminütigen Anruf vom Handy des Disponenten über Lautsprecher im Büro der Spedition Wilking mitgehört habe. Was natürlich zunächst einer Einwilligung Grafs bedurft hätte. Der wusste aber offensichtlich gar nichts davon.

Aussage gegen Aussage

Es wäre, das ist meine Überzeugung, dem erfahrenen Richter genau an dieser Stelle möglich gewesen, von seinen später schriftlich niederlegten juristischen Weisheiten abzuweichen und dem Disponenten genau die Fragen aus dem praktischen Ablauf eines routinemäßigen Transportes zu stellen, die ich mittlerweile als Journalist immer wieder hartnäckig dem Fahrer Graf gestellt habe. Oder natürlich der nicht anwesende Anwalt. Denn, nirgendwo in den Akten, die mir nun auch in Teilen vorliegen, steht schriftlich etwas von einer Forderung nach einem Tankgutschein. Was dort allerdings in Screenshots, einer dieser WhatsApp-Kommunikationen mit dem Disponenten zusammen mit einer quasi zeitgleich stattfindenden Telefonkonferenz mit dem Disponenten und zwei Fahrern, die beide laut meiner Rückfrage an Marcel Graf dem Gericht vorliegen sollen, festgehalten ist, lässt sich auch als durchaus verzweifelte Bitte eines Fahrers an seinen Disponenten interpretieren, dringend eine Lösung zur Frage der fehlenden Genehmigung zu finden. Mit dem Hinweis, dass der Auftraggeber in der Tat nun 200 Euro für die Genehmigung eingespart habe.

Ein unbefriedigendes Urteil

Marcel Graf scheint vielleicht unbequem geworden zu sein. Dass er sich angeblich über einen nicht gewährten Pokal für die noch nicht vollständig erreichte fünfjährige Firmenzugehörigkeit so quergestellt haben und sich sein Verhalten so urplötzlich verändert haben soll, ist die Version der Firmenleitung. Weitere Punkte, die Graf im Rahmen der Verhandlung und in den vorherigen Schriftsätzen zur Sprache gebracht hatte, werfen kein homogenes Bild auf die Spedition Wilking. Hier hat Graf mittlerweile Strafanzeigen erstattet. Auch sie waren in dem Verfahren für den Richter nicht maßgebend.

Auf Nachfrage hat mir Jessica Reisner nun ihre Sicht des Verfahrens genannt: „Es endete mit einem sehr unbefriedigenden Urteil“, so Reisner. „Ich hätte mir vom Richter mehr kritische Nachfragen in Richtung Wilking gewünscht. Die Verhandlung zeigte aber auch, was viele Angestellte unterschätzen: Arbeitsgerichte fokussieren sich bei Kündigungsschutzverfahren ganz auf den vom Unternehmen genannten Kündigungsgrund. Grundsätzliche Fragen zu Arbeitsklima und -bedingungen spielen in der Regel keine Rolle. Gekündigte brauchen deshalb einen absolut verlässlichen Anwalt, der Konstrukte, die lediglich dazu dienen sollen, Betriebsratsgründer oder unliebsame Beschäftigte zu entsorgen, bereits in den Schriftsätzen zweifelsfrei zerlegt. Das Urteil ist ein Geschenk an Unternehmen, die Betriebsratsgründungen unterlaufen wollen.“

Eine Berufung ist möglich

Mittlerweile hat Marcel Graf einen neuen Anwalt gesucht, einen nach meinem Gespräch mit beiden zusammen Anfang dieser Woche erfahrenen Fachanwalt für Arbeitsrecht. Nicht mehr aus Nordhausen. Sondern aus Waltrop. Also mitten aus dem Geschehen. Er prüft nun die Unmengen an Akten. Darunter auch eine eidesstattliche Versicherung des Disponenten an seinen Chef, in der dieser vor Gericht – ohne vorherige Vereidigung - den Vorgang an diesem Tag öffentlich zusammengefasst hat. Allerdings ging es bei diesem Transport um eine Garage. Die wiederum fällt in den Bereich der firmeneigenen Abteilung Resale.

Eine Berufung gegen das Urteil ist noch bis zum 28. August möglich. Denn mit anderen Augen ist dem Anwalt sofort aufgefallen, was selbst Graf bislang einfach übersehen hatte: „Warum sollte ich ausgerechnet einen Tankgutschein in Höhe von 200 Euro im Rahmen einer Erpressung gefordert haben?“, so Graf. „Einen Privatwagen habe ich nicht, mir stand, auch das ist dem Gericht bekannt, jederzeit ein Poolfahrzeug von Wilking zur Verfügung Dazu eine firmeneigene Tankkarte mit monatlich 50 Euro Guthaben.“ Das Geld aus dem Fond, so hat es mir Graf in Herne gezeigt, ist übrigens noch da.