Bayerns bekannteste Bierkurve ist bei Kulmbach. Der Ort im Frankenland selbst ist bekannt durch den gleichnamigen, weltweit exportierten Gerstensaft. Immer wieder brechen dort, so wie im Februar 2024, volle Bierkästen seitlich durch die Planen der Auflieger, die von der lokalen Brauerei kommen. In einem bemerkenswert humorvollen Video fasst Polizeisprecher Moritz Dippel das wiederkehrende Problem prägnant zusammen: „Wenn man einen Lkw mit Bierkästen belädt, dann gibt es bestimmte Richtlinien, die man beachten muss, wie man diese Ladung genau zu sichern hat, so dass die Kästen eben nicht in Bewegung kommen.“
Der alltägliche Wahnsinn
Verlorene Bierkästen sind bundesweit mittlerweile keine Seltenheit mehr. Es gibt Tage, passend zur Grillsaison, da liegen die durch die Aufliegerwand gebrochenen Schweinehälften eine Ausfahrt weiter auf der Autobahn. Die sowieso gerade unter einer Vollsperrung ächzt, weil eine zu hochragende Baggerschaufel trotz Tieflader unter einer eh schon maroden Brücke steckengeblieben ist. Der alltägliche Wahnsinn auf den Autobahnen, Bundes- und Landesstraßen im größten Transitland Europas lässt sich jeden Tag mit neuen Meldungen auf der Facebookseite der „Lkw-Unfälle und Kontrollen“-Gruppe nachvollziehen. Ebenso wie die zahlreichen Berichte über Polizeikontrollen, deren Beanstandungsquoten immer größer werden.
Dauerthema Fahrermangel
Deutschlandweit fehlen bereits 60.000 bis 80.000 Lkw-Fahrer. Niemand kann diesen Zahlen mehr entkommen. Es gibt mittlerweile keine Zeitung mehr, keine TV-Sendung, in der Prof. Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL), sie nicht als Warnung vor dem drohenden Versorgungskollaps wohl im kommenden Jahr beschwört. Jetzt erst in der Hessenschau, im Zuge einer beklemmenden Reportage über den eklatanten Mangel an Lkw-Parkplätzen im zentralen Bundesland.
Dieser Text könnte von heute sein, in der Tat stammt er aus einem meiner Blogbeiträge zum Dauerthema Fahrermangel aus dem Jahre 2021 und der schon damals aufgeworfenen Frage, ob es mehr oder weniger Ausbildung braucht. Dabei ist der BGL eigentlich ein Verfechter der guten Ausbildung, für die es zwei Möglichkeiten gibt.
Kaum noch Bereitschaft für die Pflichtschulungen
In der Tat hat Engelhardt das Thema erst am 4. März in einem Interview mit dem Background.Tagesspiegel wieder aufgegriffen. Wortwörtlich heißt es darin zu der Frage, was passieren müsste, um Arbeitskräften den Einstieg in den Lkw-Fahrerberuf zu erleichtern: „Wir finden kaum noch Bereitschaft bei potenziellen und bestehenden Fahrern, die Pflichtschulungen in der jetzigen Form zu absolvieren. Angesichts des Fahrermangels sollten wir überlegen, ob wir den aktuellen Ablauf so hochhalten können. Osteuropäische Anbieter tun dies bereits. Unsere Unternehmen bilden ihre Fahrer gut aus. Ein Pilotprojekt könnte testen, ob ein Lkw-Führerschein ausreicht und die Berufskraftfahrerqualifikation freiwillig wird. Die Unionsfraktion denkt bereits in diese Richtung, was eine enorme Entbürokratisierung auch für die Verwaltungen bedeuten würde.“
Das leidige Thema "95"
Auf meine Nachfrage in Frankfurt hat der BGL dieses Statement präzisiert: „Zu den vielen Hürden, die junge und nicht mehr ganz so junge Menschen vom Ergreifen des Lkw-Fahrer-Berufs abhalten, gehört auch das leidige Thema 95“, heißt es wörtlich. Seit 16 Jahren gäbe es nun diese vorgeschriebenen Schulungen alle fünf Jahre, die andere Berufe nicht kennen. „Kein Bäcker muss alle fünf Jahre nachweisen, dass er Roggenmehl von Weizenmehl unterscheiden kann und kein Journalist muss alle fünf Jahre nachweisen, dass er noch die Interpunktionsregeln aus dem Duden beherrscht.“ Ein sehr hinkender Vergleich. Wenn ich am Rechner sitze und mich mein grammatikalisches Assistenzsystem plötzlich warnt, dann werfe ich höchstens das Glas Kölsch vom Schreibtisch und gefährde meinen Holzboden – aber nicht andere Verkehrsteilnehmer.
Wasser auf die Mühlen
„Viele Lkw-Fahrer, die bereits mehrere Jahrzehnte Berufserfahrung „auf dem Buckel“ haben, empfinden solche Zwangsschulungen im besten Falle als Geldmacherei, im schlechtesten als Schikane und Respektlosigkeit vor ihrer beruflichen Lebensleistung“, heißt es weiter. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Zielgruppe, die das in den sozialen Medien auch gerne selbst zum Ausdruck bringt und dabei im selben Augenblick bei konkreter Unwissenheit oftmals zu erkennen gibt, dass in der Tat 16 Jahre Weiterbildung seit September 2009 für die Katz waren.
In einem Punkt hat der BGL natürlich Recht: „Die Anforderungsprofile an das Know-how des Fahrpersonals hängen sehr vom Einsatzbereich ab. Wer für eine Silospedition fährt, benötigt im Normalfall keine dezidierten Kenntnisse im Bereich Ladungssicherung, Stückgutfahrer dagegen schon.“ Das halte ich für einen Denkfehler. In kaum einer Branche ist die Fluktuation derzeit so hoch wie im Transportgewerbe, und plötzlich findet sich der im Ausblasen eines Kippsilos mit Getreide oder Malz bestens geschulte Kraftfahrer auf einem Planenzug wieder und muss Bierkästen laden.
Wenn dem Fahrer die Lust vergeht
„Wir plädieren dafür, nicht die Fahrer, sondern die Unternehmen zu den benötigten Schulungen in ihrem Bereich zu verpflichten“, so Engelhardt weiter, selbst ein erfahrener Fahrensmann aus alten Zeiten. „Der jetzige 95er Status Quo führt dazu, dass vielen älteren Fahrern die Lust vergeht, ihren Lkw-Führerschein zu verlängern und er verhindert, dass zahlreiche in Rente gegangene Lkw-Fahrer aushilfsweise im alten Beruf arbeiten – und dass man in zwei oder drei Jahren all das vergisst, was man sich in 30 oder 40 Jahren „draufgeschafft“ hat, glauben wir nicht.“ Dass viele ältere Fahrer in Rente nur weiterfahren, weil eben die Rente nach über 40 Jahren als Fahrer im deutschen Transportgewerbe nicht ausreicht, sei hier nur am Rande erwähnt.
Ständige Weiterentwicklung

„Das Berufsbild des Lkw-Fahrers und die Anforderungen an ihn haben sich in den letzten 25 Jahren stark gewandelt und sind höchst komplex geworden“, sagt Polizeihauptkommissar Tom Fiala.
Den Vorschlag des BGL kann Polizeihauptkommissar Tom Fiala, der seit über 20 Jahren unter anderem den Fernfahrerstammtisch der Autobahnpolizei Köln leitet, so nicht stehen lassen. „Das Berufsbild des Lkw-Fahrers und die Anforderungen an ihn haben sich in den letzten 25 Jahren stark gewandelt und sind höchst komplex geworden“, kommentiert er. „Die Technik im Lkw aber auch der gesetzliche Rahmen und Vorschriften, ob nationales oder auch EU-Recht, sind riesige Themenbereiche, die sich stets weiterentwickeln. Das Ganze auf den Erwerb der Führerscheinklasse CE und DE herunterzubrechen und auf eine fundierte Aus- und Weiterbildung zu verzichten oder stark zu reduzieren, ist sträflicher Leichtsinn in Verbindung mit steigenden Unfallzahlen und damit verbundenen Verkehrsbeeinträchtigungen und Staus.“
Das Informationsdefizit der Fahrer
Das Informationsdefizit der Fahrer sieht er beinahe täglich bei Schwerlastkontrollen, aber auch bei seiner Tätigkeit als Referent für die 35-stündige Fortbildung der Fahrer im Rahmen des Berufskraftfahrerqualifikationsgesetzes. „Gleiches erlebe ich bei meinen Fernfahrerstammtischen. Umso wichtiger sehe ich meine Aufgabe, die Fahrer gut zu informieren. Hier geht es nicht darum, alle Fahrer zu stigmatisieren, ganz im Gegenteil, den gleichfalls erlebe ich auch, dass die Fahrer konzentriert zuhören, gerade wenn es um aktuelle Informationen rund um die Transportwelt geht.“ Hinzu komme, so Fiala bewusst überspitzt, dass der Fahrer, wenn er alle wichtigen Gesetzestexte und technische Informationen im Fahrerhaus dabeihätte, seinen Schlafplatz ausbauen und eine Bibliothek einbauen müsste.
Dabei soll das es nur klarstellen, wie wichtig und sinnvoll eine gute Aus- und Weiterbildung für die Fahrer ist. „Ich erlebe häufig, gerade wenn ich mit jungen Fahrern rede, die sich in der dreijährigen Ausbildung befinden oder abgeschlossen haben, dass deren Wissenstand weit über dem der erfahrenen alten Hasen im Transportsektor liegt. Das ist eine positive Entwicklung, die nicht aus irgendwelchen Nöten heraus abgeschafft werden sollte.“
Kenntnisniveau von ausreichend bis mangelhaft

„Wenn ich Fahrerschulungen durchführe, mache ich regelmäßig die Erfahrung, dass das Kenntnisniveau durchschnittlich in Schulnoten als ausreichend bis mangelhaft einzustufen ist“, so Logistikberater Götz Bopp.
In dieselbe Kerbe schlägt Götz Bopp aus Stuttgart, der seit mehr als 15 Jahren Unternehmen, die Güter oder Personen in Deutschland und Europa befördern, über die rechtskonforme Durchführung der Beförderungen berät. „Der Job eines Fahrers ist durch die Vielzahl an Anforderungen aus vielen verschiedenen Vorschriften wie zur Ladungssicherung oder rund um die Lenk- und Ruhezeiten, bereits von hoher Komplexität“, so Bopp. „Ich habe nicht den Eindruck, dass die Pflichten und Kenntnisanforderungen künftig geringer werden oder die Vorschriften einfacher umzusetzen sind. Wenn ich Fahrerschulungen durchführe, mache ich regelmäßig die Erfahrung, dass das Kenntnisniveau durchschnittlich in Schulnoten als ausreichend bis mangelhaft einzustufen ist.“
Erschütterndes Gesamtbild
Bei Schulungen für Verantwortliche oder Disponenten sei das Gesamtbild im Regelfall ebenso erschütternd. „Wenn die Politik etwas zur Verbesserung beitragen wollte, könnte sie Vorschriften so gestalten, dass sie weniger komplex und damit auch einfacher zu vermitteln und umzusetzen sind“, argumentiert der Experte. Das Ansinnen, die Grundqualifikation und die Weiterbildungen nach dem Berufskraftfahrerqualifikationsrecht in die Freiwilligkeit und somit in die Versenkung zu treiben, passe zudem in keiner Weise zu dem Gefährdungspotenzial, das ein Lkw oder Omnibus für Dritte im Straßenverkehr mit sich bringe. „Und gab es da nicht ein gemeinsames Vorhaben der europäischen Verkehrsminister namens Vision Zero?“
Die Wurzel allen Übels
Laut Bopp fuße die Wurzel allen Übels im europäischen Frachtgeschäft auf zwei Missständen: Erstens der verladenden Wirtschaft, für die der Transport nur eines sein darf, nämlich billig. Und zweitens in einem Konstruktionsfehler des EU-Binnenmarktes beziehungsweise der europäischen Rechtsordnung, die zentrale beschäftigungs- und sanktionsrechtliche Fragestellungen unter dem Stichwort der Subsidiarität den einzelnen Mitgliedstaaten überlässt, wo eine einheitliche EU-weite Basis dringend notwendig wäre. Bestes Beispiel ist der Skandal um die afrikanischen Fahrer der Hegelmann-Gruppe, die ich, rund um das Thema Ladungssicherung erweitert, im Brennpunkt des FERNFAHRER 4/2025, der ab dem 13. März im Handel erscheint, aktualisiert habe.
Reduzierung langfristig sinnlos
„Die Reduzierung der Aus- und Weiterbildungsqualität im Lkw- und Bussektor wäre langfristig sinnlos, da sie zu einer Abnahme der Sicherheit und Zuverlässigkeit im Straßenverkehr führen wird“, argumentiert auch Christian Rennie, Trainer & Berater für Transport & Verkehr aus Nürnberg, im Bild oben bei einer praxisorientierten Weiterbildung. „Unzureichend ausgebildete Fahrer erhöhen das Risiko von Unfällen und ineffizienter Arbeitsweise, was sowohl die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen als auch die Sicherheit der Allgemeinheit gefährdet. Zudem könnte eine Verringerung der Qualifikation das Vertrauen in den Beruf und die Branche insgesamt vertiefend schädigen, was langfristig zu weiteren Engpässen und einem noch stärkeren Mangel an qualifizierten Fahrern führen würde.“
Verbesserung statt Abschaffung
Eine kurz- bis mittelfristige Lösung für den Fahrermangel könnte laut Rennie in einer Kombination aus mehreren Maßnahmen bestehen:
- Einer Attraktivitätssteigerung des Berufs: Durch bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und flexiblere Arbeitszeiten könnte der Beruf des Lkw- und Busfahrers für mehr Menschen interessant gemacht werden. „Hierzu gehört auch, dass die Arbeitsbedingungen vor Ort, wie etwa die Schlafplätze, Pausenregelungen und der Zugang zu sauberen sanitären Anlagen verbessert werden.“
- Verbesserung der Ausbildung der Ausbilder: Meister oder Fahrlehrer werden heißt nicht automatisch Meister oder Fahrlehrer sein. Die Verbindung einer realitätsnahen Aus- und Weiterbildung dieser Multiplikatoren muss endlich gezielt vorangetrieben werden. Insbesondere die methodisch/didaktischen Fähigkeiten müssen gestärkt werden sowie den Mut befeuert, endlich auch Praxiseinheiten in die Weiterbildung zu integrieren. Endlich weg von der Powerpoint-Show!
- Endlich das E-Learning in Deutschland einführen: Der Gesetzentwurf verzögert sich schon viel zu lange. Nicht nur weil die Politik diesem Thema keinerlei Periodisierung eingeräumt hat, auch, weil sich viele Weiterbildner dagegen sträuben. Es soll die Präsensveranstaltungen nicht ersetzen, nur ergänzen.
- Verpflichtende Qualifizierung von Disponenten, Verkehrsleitern, Fuhrparkleitern: Dieser Personenkreis hält sich schon zu lange aus dem Thema Aus- und Weiterbildung heraus. Es muss möglich sein, dass auch dieser Personenkreis, der meist ebenfalls Inhaber einer entsprechenden FE-Klasse ist, auch an der Weiterbildung tatsächlich teilnimmt. Alternativ muss dafür eine Führungskräfte-Qualifizierung geschaffen werden analog zur Trainer-Fortbildung.
„Diese Maßnahmen“, so Rennie abschließend, „würden den Druck auf die Unternehmen verringern und gleichzeitig sicherstellen, dass die Qualität der Ausbildung und der Berufsausübung nicht leiden muss.“ Am Ende käme es auch Tausenden Litern Bier zu Gute, die beim Sturz auf den Asphalt fahrlässig vernichtet werden.