Lkw-Unfälle am Stauende: 40 Tonnen Verantwortung

Lkw-Unfälle am Stau-Ende
40 Tonnen Verantwortung

Ein Unfall am Stau-Ende am Kreuz Walldorf hinterließ an Rosenmontag 2018 die damals 15-jährige Helena Harmsen als einzige Überlebende in zwei Pkw. Auf den Tag sechs Jahre danach sprach sie darüber.

Brennpunkt zu Stauende-Unfällen
Foto: Jan Bergrath

Der Verkehr läuft wieder dreispurig auf der A 5 kurz vor dem Kreuz Walldorf. Dieter Schäfer (66), langjähriger Leiter der Verkehrspolizeidirektion Mannheim, steht Rosenmontag, dem 12. Februar 2024, am frühen Nachmittag an der Ausfahrt des Parkplatzes Lußhardt. Nur wenige Hundert Meter vor der damaligen Unfallstelle. Auf den Tag genau vor sechs Jahren war die Situation dort ganz anders, wie er es in seinem in den Räumen der Mannheimer Versicherung vorgestellten neuen Buch „Max Achtzig - 40 Tonnen Verantwortung!“ genau beschreibt. „Auf der A 6 hatte sich bei Rauenberg der damals tägliche Rückstau immer weiter gebildet, sodass er das Abbiegeohr von der A 5 zur A 6 erreicht hat“, so Schäfer. „Aus Bruchsal kommend liegt diese Stelle in einer langen leichten Rechtskurve.“

Auf dem Weg zurück nach Köln

In einem Mittelklassewagen ist die damals 15-jährige Helena Harmsen aus Köln mit ihren beiden Eltern und der jüngeren Schwester unterwegs. Hinter dem Pkw fährt der 59-jährige polnische Fahrer einer deutschen Spedition im Verkehr mit. Helenas Familie wollte von einem Besuch bei den Großeltern in Karlsruhe zurück nach Köln, noch ein wenig Karneval feiern. Beide Fahrzeuge wollen auf die A 6. Der Lkw-Fahrer, davon ist Schäfer überzeugt, wähnt sich wohl sicher, da er auf der mittleren und linken Spur von schnellen Pkw überholt wird.

Ungebremst mit 81 km/h ins Stauende

Dann geschieht das bis heute Unfassbare: Um 14.18 Uhr übersieht der Lkw-Fahrer bei Kilometer 292 in seinem Volvo FH, der noch keinen Notbremsassistenten hatte, das Stauende. Ungebremst, mit 81 km/h, schiebt er das Auto mit Helena und einen zweiten Pkw auf einen Tankauflieger. „Helenas Vater, ihre Mutter und ihre 14-jährige Schwester kommen ums Leben“, beschreibt Schäfer in seinem Buch diese Situation, die ihn bis heute auch nach vielen Gesprächen mit den Einsatzkräften vor Ort belastet. „Helena wird mit multiplen Knochenbrüchen, aber nicht lebensgefährlich verletzt, in die Klinik geflogen. Der Lkw-Fahrer selbst bleibt unverletzt.“ Das aus dem Tankauflieger auslaufende Schweineblut fließt, von der Feuerwehr mit Wasser verdünnt, in den unter der Autobahn querenden Kraichbach und färbt diesen rot.

Penetranter Geruch noch immer in der Nase

Diesen penetranten Geruch bekomme sie immer noch nicht weg, berichtet Helena am Vormittag dem TV-Journalisten Thomas Präkelt von RTL für die Sendung RON TV, die noch am selben Abend ausgestrahlt wird. Sie kann sich nur daran erinnern, dass sie anhalten mussten. Ob ihr Vater am Steuer den herannahenden Lkw noch gesehen habe, kann sie nicht sagen. „Es ging alles so schnell. Als wir gerade standen, hat es schon gekracht.“

Ein langer Weg zurück in ein fast normales Leben

Zum ersten Mal spricht die mittlerweile 21-jährige Frau öffentlich über ihren langen Weg zurück in ein fast normales Leben, immer wieder aufgefangen von der Schwester des Vaters und deren Mann. Erst im letzten Jahr habe sie sich nach einem viermonatigen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik intensiv mit dem Unfall auseinandergesetzt. Es ist erschütternd, wie sie dennoch von eigenen Schuldgefühlen spricht. „Kurz vor der Fahrt habe ich mit meiner Schwester noch den Platz im Pkw getauscht“, berichtet sie mit entschlossener Stimme. Deren Namen hat sie auf den Unterarm tätowiert. Erst jetzt sei sie bereit, dem Leid der vielen Opfer von Unfällen am Stau-Ende ein Gesicht zu geben und dadurch auch die Kampagne von Dieter Schäfer zu unterstützen. Den Zuhörern im Raum stockt der Atem.

Große Unterstützung für Schäfers Arbeit

Auch Schäfer spricht bei RON TV eindringlich davon, wie er immer wieder versucht, das Gefahrenradar bei den Lkw-Fahrern zu schärfen. Und von der Unterstützung, die er seither etwa von den Verdi Kraftfahrerkreisen bekommt. Oder von Uwe Pohl, der seit November 2010 Lkw steuert und seit März 2016 für die Hoyer Gaslog GmbH mit Kohlensäure innerdeutsche Touren oder nach Belgien, Tschechien und Polen fährt. Pohl findet nur lobende Worte für Schäfers Arbeit. „Es ist der einzige Verein, der präventiv gegen das Sterben am Stauende ankämpft“, so Pohl. „Aktiv liegt der Ball aber vor allem bei den Verkehrspolizeiinspektionen, durch Kontrollen und Sanktionen das Gefahrenbewusstsein zu steigern.“

Schlimme Zustände auf Deutschlands Autobahnen

Pohl ist einer der Administratoren der Facebookgruppe „Lkw-Unfälle und Kontrollen“-Group, die bereits 2017 von Lkw-Fahrern gegründet wurde. Das Anliegen: Aufklären über Missstände in der Branche, auf der Straße, in der Politik. Ein Blick auf die Seite zeigt die derzeit schlimmen Zustände auf Deutschlands Autobahn und Straßen. Jeder Unfall, der online in den lokalen Medien veröffentlicht wird, ist hier aufgeführt. „Im heutigen Zeitalter der bunten, digitalen Medienwelt wird man täglich mit Informationen versorgt“, erklärt Pohl. „Diese gilt es zu filtern, mit entsprechenden Polizeimeldungen abzugleichen und zu ergänzen. Oder, wenn nötig, auch richtigzustellen.“

2023 mindestens 37 Stauende-Unfälle mit Lkw

Dank dieser präzisen Recherchearbeit ist jetzt auch bekannt, dass es aufgrund dieser Meldungen im Jahr 2023 mindestens 37 Lkw-Unfälle am Stauende mit 40 dabei getöteten Lkw-Fahrern gab. 2022 lag die Zahl noch bei rund 70 getöteten Lkw-Fahrern. Zu den Autobahnen mit den meisten Unfällen zählen die A 2, die A 3, die A 6 und die A 8. „Ein Abwärtstrend der tödlichen Lkw-Unfälle am Stau-Ende in den letzten Jahren ist sicherlich erkennbar“, sagt Pohl. „Lkw-Unfälle am Stau-Ende bleiben aber weiter hoch. Über 70 Unfälle dieser Art gab es im Jahr 2023 zusätzlich, wo wir nicht sagen können, ob alle Kollegen diesen auch überlebt haben. Und bis Mitte Februar 2024 waren es bereits wieder vier getötete Lkw-Fahrer an einem Stau-ende. Jeder tote Verkehrsteilnehmer ist einer zu viel und hätte vermieden werden können."

Ein Abbild unserer heutigen Ellbogengesellschaft

Bei den Gründen geht Pohl mit Dieter Schäfer konform: Da ist zunächst die Ablenkung jeglicher Art, die Nichteinhaltung der Sicherheitsabstände, die Missachtung von Regeln des Straßenverkehrs, die Unkenntnis vorhandener Assistenzsysteme und der unnötige Stress durch Zeitvorgaben. „Die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Berufsfahrer und deren Umsetzung oder das grenzenlose Ausschöpfen dieser möglichen ‚Schichtzeiten‘ stehen für mich derzeit auf dem Prüfstand“, erklärt Pohl. „Es ist die Verkehrsdichte in Deutschland und das oft falsche Verhalten der Verkehrsteilnehmer auf der Straße, was immer wieder zu gefährlichen Situationen und Unfällen führt. Was wir als Berufskraftfahrer täglich selbst auf der Straße erleben, ist nichts anderes als ein Abbild unserer heutigen Ellbogengesellschaft."

DVR: Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen

Dazu passt auch das Grußwort von Manfred Wirsch, dem neuen Präsidenten des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR), das bei der Veranstaltung in Mannheim eingespielt wurde. Darin bezeichnet er die Berufskraftfahrer als tragende Säule der Lieferketten. Er fordert, die Arbeitsbedingungen für sie so zu gestalten, dass sie sich vollständig auf ihre Fahrtätigkeit konzentrieren können. Dazu gehört die Schaffung von Lkw-Parkplätzen, aber auch die Bereitstellung von sauberen Sanitäranlagen. Zudem sieht er auch Industrie und Warenhandel in der Pflicht, ihre Verantwortung zu erkennen und zu verstehen, wie ihre Prozesse an den Be- und Entladestellen zu Unfallgefahren beitragen können.

Lkw-Fahrer haben 40 Tonnen Verantwortung

„Bei der Auswertung der Unfälle hat mich überrascht, dass mehr als dreimal so viele Lkw-Fahrer ihr Leben lassen, wie Insassen in Pkw", so Schäfer. „Bei ersteren kommt der Tod mit Anlauf und ungebremst, eindeutiges Zeichen für die alleinigen Unfallursachen Ablenkung und Sekundenschlaf.“ Die große Gefahr beschreibt er in seinem Vortrag und im Buch vor allem auf den dreispurigen Autobahnen vor einer Baustelle. So wie an Rosenmontag 2018. „Man muss den Lkw-Fahrern endlich begreifbar machen, dass sie 40 Tonnen Verantwortung haben", betont er eindringlich. „Wenn sie die falsch einsetzen, dann sind sie für den Tod von fremden Menschen oder ihren eigenen Tod verantwortlich und sie stürzen ihre eigenen Angehörigen oder die Angehörigen der getöteten Insassen eines Pkw ins Leid.“

Das Gefahrenradar sensibilisieren

Der fatale Unfall an Rosenmontag 2018 auf der A 5 kurz vor dem Kreuz Walldorf, der vier Insassen aus zwei völlig zerstörten Pkw an einem Stau-Ende zwischen zwei Sattelzügen das Leben kostete und ein damals 15-jähriges Mädchen schwerverletzt und traumatisiert überleben ließ, war vermeidbar. Davon ist Dieter Schäfer überzeugt. Für ihn gab er auch nach Gesprächen mit den psychisch teils schwer belasteten Ersthelfern zunächst den Ausschlag zur Gründung des Vereins „Hellwach mit 80 km/h“. Der hat neben der Mannheimer Versicherung weitere Unterstützer wie den DVR, die SVG Baden, die DGUV, die BGHW, die Verkehrsunfallopferhilfe Deutschland (VOD) und den DSLV bekommen.

Auf 116 Seiten beschreibt Schäfer neben der Schilderung des Unfalls die beiden größten Gefahrenpotenziale für die Lkw-Fahrer, den Sekundenschlaf und die Ablenkung. Er analysiert die Gefahr vor Baustellen gerade auf dreispurigen Autobahnen und klärt noch einmal über den Unterschied zwischen ASR und AEBS auf, dem Abstandsregeltempomaten und dem Notbremsassistenten. Das Buch kann als Begleitwerk im Rahmen der für Berufskraftfahrer und Trainer gesetzlich vorgeschriebenen Schulungs- und Fortbildungsinhalte der Anlage 1, Ziffern 1.2, 1.3a und 3.1 der BKrFQV eingesetzt werden. Es kostet einzeln 11 Euro, 9 Euro ab 100 Exemplaren oder 8 Euro ab 250 Stück.

Online-Bestellungen unter: info@hellwach-mit-80-kmh.de