Fairer oder illegaler Wettbewerb in Europa? Viele offene Fragen

Weihnachtsmann, Lkw-Parkplatz, Fahrer Foto: Jan Bergrath

Wird der Transport in der wettbewerbsdominierten Logistik Europas gerechter oder gewinnt doch die zunehmende Illegalität die Oberhand? Zu diesem Thema findet am 29. November 2016 eine Veranstaltung bei der IHK in Stuttgart statt.

Nun ist es wirklich nicht mehr so lange bis Weihnachten. Seit Wochen schon rollen die Lastwagen quer durch Europa, um die Warenlager des Einzelhandles mit Gebäck und mit allen möglichen Waren zu versorgen. Zeitgleich bereiten sich in ganz Deutschland rund 150 engagierte Fahrer, die in der Allianz im deutschen Transportwesen (AidT) oder den sieben Kraftfahrerkreisen organisiert sind, auf die nächste Aktion am 1. Weihnachtsfeiertag vor. Auf etwa 220 Raststätten und Parkplätzen entlang der Transitautobahnen wollen sie die Fahrer aus Osteuropa, die über die Festtage wieder einmal unter fragwürdigen Bedingungen in ihrem Lkw festsitzen, mit Gebäck aus eigener Herstellung erfreuen.


Einer der größten Widersprüche in der Logistik

Es ist einer der größten Widersprüche der internationalen Logistik. Deutsche Fahrer, von denen viele beklagen, dass ihre Arbeitgeber im Wettbewerb mit den Billigflotten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern preislich kaum noch mithalten können, beweisen dennoch Solidarität mit den Kollegen, die zu Billiglöhnen zum Teil wie Nomaden mehrere Wochen meist im Auftrag der internationalen Logistikkonzerne quer durch Europa unterwegs sind. Eigentlich dürfte das so gar nicht sein. Aber im Namen des freien Warenverkehrs, einer der vier Säulen der EU, wurden in der Vergangenheit Gesetze schwammig formuliert. Gleichzeitig fahren die Nationalstaaten die Kontrollaktivitäten zurück. Fahrer werden im Namen des Konsums verschlissen. Als die Eu die Slowenin Violeta Bulc am 1. November 2014 zur neuen EU-Verkehrskommissarin berief, versprach sie, dass die paneuropäische Logistik im Herbst 2016 mit dem von ihr versprochenen Road Package sozialer und fairer werden sollte. Mittlerweile ist davon nur noch eine sogenannte Straßeninitiative übrig geblieben. Nun ist zu hören, dass diese Initiative Anfang 2017 in Brüssel vorgestellt werden soll.

Unstimmigkeiten zwischen Verordnungen und Richtlinien auflösen

Doch bislang dringen nur wenige, konkrete Informationen nach außen. Nur eins steht fest, wie Götz Bopp, Verkehrsexperte von der IHK Stuttgart und einer der Experten von "FERNFAHRER hilft", sagt: "Die EU-Kommission überarbeitet die Rechtsgrundlagen rund um die Lenk-, Arbeits- und Ruhezeiten. Ein Ziel ist es, Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Verordnungen und Richtlinien aufzulösen. Außerdem will die Kommission Vorschriften klarer und damit weniger interpretierbar formulieren, um die abweichenden Auslegungen in den EU-Mitgliedstaaten zu verringern." Doch wohin geht die Reise konkret, fragt nicht nur Bopp sich, sondern er will auch wissen, was sich ändert und was beim Alten bleibt. Das diskutiert Bopp mit einigen hochkarätigen Fachleuten am 29. November im "Stuttgarter Forum für Fahrpersonalrecht". (Link zum Einladungsflyer am Ende des Artikels). Ich habe die Ehre, diese Veranstaltung moderieren zu dürfen. Und deswegen versuche ich vorab, einige der für mich großen offenen Fragen aus meiner Sicht noch einmal zu erörtern. Denn der gesamte politische Rahmen spricht derzeit leider nicht dafür, dass diese Fragen so schnell und so einvernehmlich gelöst werden.

Ärger um die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw

Die für mich größte Posse der europäischen Verkehrspolitik dreht sich nach wie vor um die Frage, ob der Lkw-Fahrer seine regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw verbringen darf, oder nicht. Der entscheidende Satz in Artikel 8,Absatz 8, lautet immer noch: "Sofern sich ein Fahrer hierfür entscheidet, können nicht am Standort eingelegte tägliche Ruhezeiten und reduzierte wöchentliche Ruhezeiten im Fahrzeug verbracht werden, sofern das Fahrzeug über geeignete Schlafmöglichkeiten für jeden Fahrer verfügt und nicht fährt."  Mit anderen Worten: Zwei von drei Möglichkeiten, die Ruhezeit im Lkw zu verbringen, sind erlaubt. Die dritte ist es nicht. Warum die Kommission auf ein klares Verbot der dritten Möglichkeit verzichtet hat, bleibt wohl für immer ein Rätsel. Die schwammige Formulierung lässt jedenfalls Platz für Interpretation. Fakt ist, dass erst durch diese Formulierung das Nomadentum der Fahrer in Europa möglich wurde.

Ruf nach einer europäischen Lösung

Niemand hat die Absicht, eine Vorordnung umzusetzen; Unter diesem Titel habe ich bereits vergangenes Jahr beschrieben, wie alle in Deutschland Beteiligten vergeblich versuchen, eine europäische Lösung zu finden. Nun wird nach einem Vorstoß des deutschen und französischen Verkehrsministers klar: diese europäische Lösung wird es in einer in Nationalismus zurückfallenden Europäischen Union wohl bei einer Mehrheit der Länder, die diesen Vorteil für ihre marodierenden Flotten beibehalten wollen, sicherlich nicht geben. Denn um ein klares Verbot auszusprechen, müsste in der Verordnung im Artikel 8, 8 der EU-Verordnung 561/2006 selbst der Satz "Das gilt nicht für die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit" verankert werden. Das setzt eine Mehrheit voraus – in der EU-Kommission, im EU-Parlament und letztes Endes im EU-Ministerrat. Sonst wird es eine Änderung der Formulierung  nicht geben.

Fragwürdige Haltung der deutschen Spitzenverbände

Meinen Glauben an die Haltung der beiden deutschen Spitzenverbände BGL und DSLV in dieser Frage habe ich dagegen verloren. Denn, sozusagen als Plan B, gibt es nach wie vor den Versuch, das Verbot in der nationalen Fahrpersonalverordnung zu verankern. Beide Verbände haben sich in der Vergangenheit leider immer wieder dagegen ausgesprochen. Man wolle keinen nationalen Flickenteppich der Verbote, heißt es einerseits. Und andererseits: ein derartiges Verbot würde eh nichts bringen. Ich halte das für interessengesteuert. Der DSLV spricht auch für die großen Speditionen und Logistikkonzerne, die längst wie selbstverständlich auf die Flotten aus den MOE-Ländern zurückgreifen. Auch immer mehr kleine und mittelständische Transportunternehmen flaggen längst einen Teil ihrer Flotten nach Osteuropa aus, setzen die Lkw aber überwiegend in Westeuropa ein. Das Modell der Spedition Kraft, das ich bereits konkret untersucht habe, funktioniert trotz Kontrollen der Behörden immer noch. Andere Unternehmen, wie ein aktuelles Beispiel aus Bayern zeigt, kopieren es mit in Rumänien zugelassenen Sattelzügen. Die Fahrer sind nun immer acht Wochen zwischen Italien und Westeuropa unterwegs. Dafür gibt es einen Lohn von rund 1.200 Euro inklusive Spesen.

Immer mehr osteuropäische Fahrer auf deutschen Lkw

Auf Grund des Mangels an qualifizierten deutschen Fahrern setzen immer mehr deutsche Frachtführer Fahrer auf deutschen Lkw im nationalen Transport ein. Das ist zunächst legal. Doch viele dieser Fahrer, vor allem aus Polen, arbeiten nach dem System Drei zu Eins.

Sie sind drei Wochen in Deutschland und fahren eine Woche nach Hause. Diese Arbeitszeit und die Wochenenden verbringen viele im Lkw. Das geschieht auch bei Firmen, die dem BGL angehören, denn die Übernahme von Hotelkosten würde das Budget schlicht sprengen. Und der deutsche Arbeitsmarkt würde einen Ersatz dieser Fahrer aus Osteuropa nicht mehr hergeben. Also ist es für viele deutsche Frachtführer mittlerweile das kleinere Übel, wenn ein Verbot, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen, nicht kommt. Und dass es nicht kommt, dafür spricht die zunehmende Blockbildung in Europa, wo die Politiker des Westens das als Sozialdumping bezeichnen, was die Politiker des Ostens als Vorteil im Wettbewerbe für ihre Speditionen verteidigen wollen.

Was ist mit dem Mindestlohn in Deutschland?

Mittlerweile ist bekannt, dass die EU-Kommission Deutschland vorwirft, mit der seit Januar 2014 bestehenden Mindestlohnpflicht für ausländische Transportunternehmen gegen die Grundsätze der Dienstleistungsfreiheit des freien Warenverkehrs zu verstoßen. Eine Klage der EU vor dem EuGH ist in den Bereich des Möglichen gerückt. Dabei basiert das deutsche Gesetz auf einem einfachen Fehler, den auch Verdi in Deutschland sowie die ETF in Brüssel weiterhin als Argument für den Mindestlohn nutzen. Sie berufen sich auf das Entsendegesetz. Doch es sollte allen klar sein: Wirklich vom Mindestlohngesetz betroffen sind, neben den hier oben genannten Fahrern, entweder nur diejenigen, die mit einem deutschen Arbeitsvertrag in Deutschland beschäftigt sind. Oder die Fahrer, die beispielsweise von der Niederlassung einer deutschen Spedition etwa in Rumänien auf in Deutschland stationierten Lkw mit rumänischer Zulassung entsendet wurden. Sind diese Lkw auch noch im nationalen Kombiverkehr im Radius von 150 Kilometer eingesetzt, ist das völlig legal.

Alle anderen Varianten (Transit und bilateraler Verkehr) fallen derzeit nicht unter das Entsendegesetz. Ein Versuch westeuropäischer Arbeitsminister, die Entsenderichtlinie entsprechen zu ändern, scheiterte bislang am Veto der Amtskollegen aus Osteuropa. Ich fürchte, dass sich Deutschland im kommenden Jahr vor dem EuGH rechtfertigen muss – und der Mindestlohn in der geplanten Form nicht durchzusetzen sein wird.

Immer mehr Touren auf Kilometerbasis

Dazu kommt: das Lohnsystem in Osteuropa basiert weitestgehend ganz offiziell auf einem gesetzlichen Mindestlohn, der zwischen 230 Euro in Rumänien und bis zu 800 Euro in den Ländern, die näher zum Westen hin liegen. Dazu gibt es Spesen,  die aber eigentlich kein Lohn sind. Doch immer öfter erreichen mich E-Mails aus Osteuropa, deren Verfasser mir klipp und klar klar schreiben, dass das gesamte Lohnsystem in einigen Ländern immer noch trotz eines eindeutigen Verbots in den europäischen Sozialvorschriften auf der Basis der geleisteten Kilometer abgerechnet wird – auf der Lohnabrechnung geschickt entweder als Spesen oder als Prämie für ökonomisches Fahren verschleiert.

Im Frühjahr habe ich zusammen mit Markus Dettmer vom Spiegel in der Reportage "Leben im Laster" versucht, das System zu entschlüsseln. Die komplette Geschichte ist nun auf der Homepage des Deutschen Journalistenpreises unter den Nominierungen im Bereich "Mobilität & Logistik" als PDF hinterlegt. Im Zuge der Recherche wurde uns sehr schnell das Grundproblem klar: Die EU-Kommission erlässt zwar Verordnungen und Richtlinien, aber am Ende müssen die Mitgliedstaaten die Kontrollen selber durchführen. Das funktioniert einfach nicht, zumal die westlichen Länder immer weniger Kontrollpersonal beschäftigen.

Es ist meiner Meinung nach daher ziemlich blauäugig zu hoffen, dass die Kontrollbehörden in den MOE-Staaten dieses für ihre Unternehmer sehr vorteilhafte System bei Betriebskontrollen durchleuchten und aus der Welt schaffen. Und deswegen sage ich: Wenn es im Frühjahr 2017 wirklich eine europäische Lösung zur Verbringung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw, eine Neufassung der Entsenderichtlinie, einen deutschen Mindestlohn für alle Fahrer aus den MOE-Staaten, die hier in oder durch Deutschland fahren und dazu eine lückenlose Aufklärung verdeckter Lohnsysteme in den MOE-Länder gibt, dann glaube ich auch wieder an den Weihnachtsmann.



Download Hier finden Sie den Flyer zur Veranstaltung. (PDF, 1,64 MByte) Kostenlos
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