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Fahrer vor Gericht Tatort Thüringen

Autobahnkanzlei-Fahrer vor Gericht Foto: Autbahnkanzlei, Archiv 4 Bilder

Erst Erntestaub, dann ein Traktor-Gespann und beim Überholen blitzt es auch noch. Zum Glück für Siggi gibt es einige Ungereimtheiten bezüglich Messprotokoll und Tatort.

Samstagnachmittag, eine Bullen­hitze in Thüringen. Siggi zieht es nach Hause. Er fährt von einer graubraunen Staubwolke in die nächste. Irgendwie, denkt Siggi, müssen sich hier alle Mähdrescher dieser Welt zu einem Gemeinschaftseinsatz versammelt haben. Er fährt schon geraume Zeit hinter einem rie­sigen Traktor her. Der hat Getreide geladen und unterstützt die Mähdrescher bei der Feinstaubverteilung. Mittlerweile glänzt der Lkw von Siggi nicht mehr weiß, sondern ist graubraun übertüncht.

Siggi macht die Scheibenwaschanlage an – jetzt hat er klare Sicht. Noch eine Kurve, dann weiß er, dass ein gerades Stück kommt. Siggi setzt zum Überholen an, aber der Traktorfahrer hat nichts Besseres zu tun, als Gas zu geben. Siggi muss beschleunigen. Es ist nur noch ein kleines Stück bis der durchgezogene Streifen kommt und danach kommt schnell eine Kurve. Um die Kurve herum, knapp vor dem durchgezogenen Streifen, kommt Gegenverkehr. Siggi gibt Gas, rettet sich auf die rechte Spur. Durch die Staubwolken zuckt auf einmal ein Blitz. Siggi schaut nach rechts und sieht hinter dem Gestrüpp einen blau-weißen Transporter. "Mist!"

Besondere Tatumstände machen es schwierig

Ein paar Wochen später ist das Blitzer­ergebnis ausgewertet. Das Bild ist milchig. Klar, bei den Verhältnissen. Sein Chef hat ihn als Fahrer angegeben. 18 km/h soll er zu schnell gefahren sein, ein Punkt winkt hämisch. Das kratzt an Siggis Ehre. Er meint, dass er dafür wirklich nichts kann und außerdem ist er seit ewigen Zeiten punktefrei. Siggi macht sich einen Termin für Samstagfrüh in meiner Kanzlei. Wir erörtern die Angelegenheit. Ich meine: Das, was Siggi vorträgt, sind besondere Tatumstände, die muss der Richter bei der Findung des angemessenen Bußgeldes berücksichtigen. Vielleicht ist es möglich, auf 55 Euro herunterzukommen. Dann gäbe es keine Punkte. Ich mache ­Siggi Mut, verspreche ihm aber nichts.

Das Verfahren nimmt seinen Lauf. Nach dem Anhörungsbogen kommt der Bußgeldbescheid, gegen den wir Einspruch einlegen. Wir bekommen die Akte. Sie setzt sich zusammen aus dem sogenannten Statusblatt. Da sind die historischen Abläufe aufgeführt. Außerdem gibt es ein Geschwindigkeitsmessblatt. Seite zwei des Geschwindigkeitsmessblattes beinhaltet die Messskizze, das milchige Staubfoto folgt. In dieser Phase, nach der Akteneinsicht, fällt eine Menge Arbeit an. Wir nennen das Tatortarbeit. Vor Ort müssen die technischen Dinge überprüft werden. Genauso wichtig ist es aber, ein Gefühl für den Tatort zu bekommen, den Fahrer und sein Verhalten am Tatort verstehen zu lernen.

Gesagt, getan. Mit Fotoapparat und Videokamera mache ich mich auf den Weg. Rechtsanwalt Rietesel aus der Autobahnkanzlei Berg begleitet mich. Als Erstes stellen wir fest, dass der Tatort mit Siggis Schilderung übereinstimmt. Danach wollen wir herausfinden, wo genau das Messgerät stand. Der Ort ist in der Akte relativ detailliert angegeben: Abschnitt 020 km, 1,0. Außerdem sieht man auf dem Messfoto einen Leitpfosten, der hinten einen Reflektor hat. Direkt gegenüber davon auf der Straßenseite sieht man einen Baum. Die Messstelle müsste also leicht zu finden sein. Aber beim Vergleich mit dem Tatfoto fällt auf, dass auf der gegenüberliegenden Seite kein Baum steht. Ich suche nach Spuren eines vielleicht abgesägten Baumes – nichts. Außerdem hat  der Leitpfosten im Gegensatz zum Foto keinen Reflektor. Es gibt noch mehr Ungereimtheiten. Der von uns gefundene Messort ist real ungefähr 200 Meter von der durchgezogenen Linie entfernt. Auf dem Messfoto findet sich aber die durchgezogene Linie. „Hier stimmt was nicht! Das Messprotokoll scheint gar nicht den wirklichen Tatort wiederzugeben.“ Rechtsanwalt Rietesel und ich gehen die Straße entlang, von Leitpfosten zu Leitpfosten. Die Pfosten hier haben alle keinen Reflektor auf der Rückseite. Als wir fast oben vor der Kurve sind, sehen wir auf der gegenüberliegenden Seite einen von Größe und Astbild passenden Baum. Wir  finden aber keinen entsprechenden Leitpfosten. Ich dokumentiere alles mit Fotos.

Auf meinem Arbeitszettel steht nun ein Besuch bei der örtlichen  Agrargenossenschaft. Den Chef des großen landwirtschaftlichen Betriebes kann sich erinnern, dass am fraglichen Tag ein Großeinsatz war. Er bestätigt mir dies schriftlich. Damit kann ich den Weizen transportierenden Traktor glaubhaft machen. Es gibt also einen weiteren Baustein für die Verteidigung.

Peter Möller untersuchte den Tatort noch einmal genau

Am Gerichtstermin kann Siggi nicht teilnehmen. Er reißt sich auch nicht gerade ­darum. Das ist unproblematisch. Ich stelle einen Antrag auf Befreiung von seiner Anwesenheitspflicht. Vor dem Gerichtstermin will ich mir das Straßenstück noch ein letztes Mal anschauen und auf mich wirken lassen. Als ich die Straße entlangfahre, schießt es mir auf einmal durch den Kopf, dass genau auf dem Straßenstück die Kreisgrenze ist. Diese Grenze definiert gleichzeitig auch die Amtsgerichtszuständigkeit. Der Messort und damit verbunden der Tatort sind also wichtig, um festzustellen, ob das Amtsgericht überhaupt zuständig ist. Ich habe noch genug Zeit, um zum Ortsbürgermeister zu fahren. Der bestätigt mir, dass die Grenze ungefähr in der Mitte des geraden Straßenstücks liegt. Bingo!

Ich gehe in den Gerichtstermin und rüge als Erstes die örtliche Unzuständigkeit. Der Richter ist etwas verdattert und will weitere Informationen einholen. Ich rege an, zuerst meinen gesamten Sachvortrag anzuhören. Nach Abwicklung der Formalien lege ich los. Das Messprotokoll kann mit der Messstelle nicht übereinstimmen. Bei dem Ort, der am ehesten in Frage kommt, ist nicht plausibel, wie das Messgerät mit einer Distanz von 5,67 Metern zum Straßenrand gestanden haben soll. Der Blitzer hätte dann in einem tiefen Graben gestanden und wohl kaum herausgucken können. Ich lege die Bestätigung der Agrargenossenschaft vor und erläutere, wie es zu der Geschwindigkeitsüberschreitung kam. Der Richter meint, da käme ja eine umfangreiche Beweisaufnahme auf uns zu. Ich merke, dass er langsam weich wird und weise darauf hin, dass eine solche Aufblähung des Verfahrens in keinem Verhältnis zu Siggis Verstoß stünde. Zumal sein Verkehrszentralregisterauszug blütenweiß sei.

Der Richter zieht sich kurz zurück. Nach ein paar Minuten kommt er wieder, erörtert noch einmal das Für und Wider und meint, er würde den Überholvorgang, den Siggi vorträgt, als wahr zugrunde legen. "Gott sei Dank, das glaubt er uns", denke ich. Dass der Traktorfahrer beschleunigt habe, könne er nicht widerlegen. Er ginge deswegen von besonderen Tatumständen aus, sagt der Richter. ,"Ist die Verteidigung mit 55 Euro einverstanden?" höre ich ihn mit erhobener Stimme sagen. "Ja klar!" Immerhin keine Punkte. Der Richter schreibt das Urteil, zwei Minuten später erheben wir uns zur Urteilsverkündung. ,"Im Namen des Volkes – 55 Euro."

Rechtsanwalt Peter Möller sitzt am Fernfahrertelefon und steht euch mit Rat und Tat zur Seite. Hier ein Auszug von individuellen Fragen der Kollegen-und die Antworten des Jouristen.

Ersatzmann

Willi: "Darf ich auf einem Anhörungsbogen meinen Bruder angeben? Der liegt im Krankenhaus und könnte das Fahrverbot locker hinter sich bringen."

Möller: "Offen gesagt, finde ich die Frage mit Blick auf den erkrankten Bruder schon etwas makaber. Die Antwort ist ein klares Nein. Einen Unschuldigen zu benennen, ist eine Straftat. Die Rechnung geht also nicht auf. Mittels einer Straftat eine Bußgeldsache auszuhebeln ist zum einen illegal, zum anderen unüberlegt. Also lass die Finger davon."

Todsünde Alkohol

Maik: "Ich habe am Samstag in kurzer Zeit Unmengen Schnaps getrunken. Sofort danach bin ich mit dem Auto nach Hause gefahren. Das waren nur zwei Minuten. Leider hat irgendwer die Polizei informiert. Die erwarteten mich schon vor der Haustür und haben meinen Führerschein kassiert. Das ist doch nicht okay! Der Alkohol konnte doch eine Viertelstunde nach dem Trinken noch gar nicht wirken.

Möller: "Du hast natürlich Recht damit, dass der Blutalkoholwert sich langsam aufbaut. Darauf kommt es aber strafrechtlich nicht an. Hier geht es ausschließlich um die Menge Alkohol, die du zur Fahrtzeit im Körper hattest. Daher musst du wohl in den sauren Apfel beißen und den Führerscheinentzug akzeptieren. Was die Länge der Führerscheinsperre anbelangt, da kann ein Verteidiger sicher was tun. Aber grundsätzlich steht fest, dass du mit einer Alkoholmenge im strafrechtlichen Bereich gefahren bist, und das ist nun einmal eine der Todsünden im Straßen­verkehr."

Dresscode

Olli: "Ich bin gelasert worden und war reichlich zu schnell. Der Posten trug allerdings keine Uniform. Kann ich mich mit diesem Argument gegen die Punkte und das Bußgeld wehren?"

Möller: "Nein, auf keinen Fall. Die Messung wird nicht fehlerhaft, weil der Mann am Laser deiner Meinung nach nicht korrekt gekleidet war. Das Messergebnis unterliegt auch keinem Beweisverwertungsverbot. Tut mir leid – mit diesem Argument kommen wir nicht weiter."

Übers Ziel hinausgeschossen

Rechtsanwalt Möller steht am Tatort und betrachtet die Beschilderung. Drei Zeichen untereinander. Oben VZ 274 mit der Beschränkung auf 40 km/h. Darunter Gefahrzeichen 133: Fußgänger. Als Letztes folgt ganz unten eine Streckenangabe: 400 m. Die Beschilderung ergibt Sinn. Der Ort liegt mitten im Wald in der Nähe eines Parkplatzes. Paul soll sein Gespann hier mit 58 km/h durchgelenkt haben. Das gibt einen Punkt, den will er nicht haben. Möller schaut sich den Messort an. Die Distanz zum Verkehrsschild macht ihn misstrauisch. Er nimmt das Rollrad zu Hilfe. Das Ergebnis: Die Lichtschranke stand 448 Meter hinter dem Verkehrsschild. Geblitzt wurde also nach Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung. 2Das ist fast schon ärgerlich", erklärt Möller dann dem Richter. Der will es nicht glauben und befragt den Messbeamten. Der erklärt, das könne nicht sein. Er habe sich an der Anzahl der Leitpfosten orientiert. Das wiederum glaubt der Autobahnanwalt nicht und zeigt ein kurzes Video mit der Weg­strecke. Es sind zehn Leitpfosten vom Verkehrszeichen 274 bis zur Messstelle. Einen Ortstermin hält der Richter nicht für nötig. Er stellt das Verfahren sanktions- und punktelos ein.

Amtsgericht Clausthal-Zellerfeld,
Az: 3 OWi 914 Js 3240/15


Unfair

Rechtsanwalt Möller sitzt in dem kleinen Gerichtssaal. Das Tat­video läuft. Okay, Karl ist deutlich zu nah dran. Meinetwegen. Dafür kann er aber nichts. Möller hat sich einen Beschilderungsplan vom Tattag geholt. Außerdem hat sich Herr Skanda von der Autobahnkanzlei den Ort zeitnah angeschaut und ein Filmchen gedreht. Beides bestätigt, was Karl sagt: Die Abstandsmessung war knapp vor einer Baustelle. Direkt hinter ­einer Geschwindigkeitsbeschränkung und einem Überholverbot. Drei Gründe also, warum der Verkehr zusammenrückt. Der Richter lässt das Video dreimal ablaufen. "Ihr Mandant hätte schon etwas mehr für den Abstand tun können", meint er. "Mag sein", antwortet Möller, "aber eine Messung an diesem Ort ist unfair. Die Situation vor der Baustelle reduziert das Maß der Vorwerfbarkeit von Karls Schuld. Das muss berücksichtigt werden." Der Richter schließt die Beweisaufnahme. Der Autobahnanwalt darf noch plädieren: "Mein Antrag: eine Geldbuße unter der Punktegrenze." Fünf Minuten hat er das Ergebnis: fünf Euro. Die Punktegrenze liegt bei 60 Euro. Geschafft.

Amtsgericht Bitterfeld,
Az: 2 OWi 493 Js 10558/15 (207/15)

Kein Beweismittel

Kai hat angeblich einen Überholverstoß begangen. Dafür soll der Mandant von Autobahnanwalt Martin Kotzott einen Punkt in Flensburg kassieren. Kai legt Einspruch ein. Dass sein Beruf schwer ist, damit kann er leben. Damit, zu Unrecht beschuldigt zu werden, jedoch nicht. Die Akteneinsicht lässt bekanntermaßen einige Wochen auf sich warten. Trotzdem ist Kai sicher, das Richtige zu tun. Als das Videoband auf dem Kanzleitisch liegt, ist auch Kotzott sicher: Das ist kein Beweismittel, das zu einer Verurteilung führen kann. Das Video wird auf die Leinwand im Büro projiziert, um es genauer zu analysieren. Das, was auf dem Computer bereits zu sehen war, zeigt die Leinwand noch deutlicher. Der Lkw von Kai ist gerade mal zwei Sekunden oben links im Eck zu sehen. Und zwar gerade in dem Augenblick, als er bereits rechts eingeschert ist. Nicht zu sehen, was vorher geschah, nicht zu sehen, ob der Vordermann Kai womöglich zum Ausscheren genötigt hat. Mit diesen Argumenten geht der ­Autobahnanwalt zur Verhandlung. Der Richter ist schnell zu überzeugen. Auch er will Kai aufgrund dieses Videobandes nicht verurteilen. "Punktefreie 35 Euro?" "Einverstanden!"

Amtsgericht Gladbeck,
Az.: 7 OWi, 90 Js
1666/14-271/14

Äpfel und Birnen

Martin ist mit 1 km/h zu viel in die Punktefalle gerutscht. In der Hauptverhandlung wird der Messbeamte gehört. Der schmeißt mit "Frames" und "Metern pro Sekunde" um sich. Die Richterin schaut verwirrt. Der Beamte rechnet flott Frames in Sekunden um, danach Sekunden in Frames, zieht die Endzahl von der Anfangszahl ab und rechnet wieder in Sekunden um. Rechtsanwalt Möller äußert vorsichtig den Verdacht, dass das alles nur der Verwirrung diene. Man müsse nicht mit Äpfeln und Birnen rechnen, um das Obst dann willkürlich wieder umzuwandeln. Die Berechnung sei falsch. Der Messbeamte schwört Stein und Bein, dass das alles richtig sei. Möller behauptet das Gegenteil. Der Richterin wird das Zahlenchaos zu bunt. Der Beamte kommt zu laufend anderen Ergebnissen und macht mittlerweile selbst einen verwirrten Eindruck. "Ich beende die Beweisaufnahme an dieser Stelle", erklärt die Richterin genervt. "Für mich steht fest, dass das Messergebnis auch um 1 km/h differieren kann." Sie schreibt das Urteil: 30 Euro. Prima – das bedeutet keine Punkte.

Amtsgericht Arnstadt,
Az: 3 OWi 662 Js 202388/14

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