Marx: Die Auftragsbücher sind voll, der Auftragseingang sieht sehr gesund aus. Wir haben praktisch keine Stornierungen. Halbleiter- und andere Lieferengpässe sind unser größter Kopfschmerz; ich kann mir nicht erklären, warum andere Hersteller hier von Entspannung reden.
Das Umfeld ist mehr als angespannt. Auch Iveco musste aufgrund der stark gestiegenen Kosten für Energie und Rohmaterial Preissteigerungen durchsetzen. Auch die Zinsen werden wieder steigen, was die Situation unserer Kunden nicht leichter macht.
Beim S-Way sind wir im Schnitt über 40 Wochen gebucht – obwohl wir in der Produktion sehr diszipliniert voranschreiten und genau prüfen, was wir annehmen können und was nicht. Viele Aufbautenhersteller listen Iveco wieder, was sich auch in einer hohen Chassis-Nachfrage bei den Baureihen T-Way und X-Way bemerkbar mach. Die Busse sind stark gebucht. Und auch die Daily-Produktion läuft auf Hochtouren in drei Schichten, hier sind wir auf über 30 Wochen ausgebucht.
Unsere Gebrauchten bieten nur bedingt Abhilfe, wenn es schnell gehen muss. In normalen Zeiten haben wir beim Daily immer 15.000 bis 20.000 Einheiten im Bestand; aktuell sind es weniger als 500. Was reinkommt, geht sofort wieder raus. Auch bei den gebrauchten Lkw reden wir über historische Niedrigstände. Und wir reden hier wohlgemerkt über den Stralis, noch kaum über den S-Way, der erst ab 2023 in nennenswerten Stückzahlen als Gebrauchter verfügbar sein wird.
Ja, das liegt daran, dass 2015 bis 2017 vertriebsseitig Fehler gemacht wurden: Wir hatten viele Buy-Backs, die in den Jahren 2019 bis 2021 zurückkamen. Diese Welle ist nun abgeebbt. Die Korrektur bei den Buy-Backs im Jahr 2019 sorgt für weniger Rückläufer und ermöglicht ein gesünderes Wirtschaften. Es ist auch nicht so, dass es für die Hersteller einfacher wird, die Rückläufer in die traditionellen Absatzmärkte wie Afrika oder Russland zu vertreiben. Daher sind wir froh, dass nicht mehr so viele Gebrauchte zurückkommen.
Iveco hat im ersten Quartal stark unter den Lieferengpässen gelitten, sie haben sich auch im zweiten Quartal noch bemerkbar gemacht. Das Thema trifft alle Fahrzeugbauer. Uns ist bewusst, dass dies für unsere Kunden nicht erfreulich ist. Daher bemühen wir uns, wo immer es möglich ist, noch eine Schicht einzubauen und auf die wirklich dringlichen Themen eine Antwort zu finden. Realistisch muss man aber sagen, dass die Lieferschwierigkeiten leider bis ins kommende Jahr 2023 anhalten werden.
Indem wir die Lieferkette noch viel stärker in den Blick genommen und nachjustiert haben. Aber ein Lkw hat viele Halbleiter, und wir kannten auch nicht jede Vorlieferstufe jedes Lieferanten, um wirklich alle Ausfälle vorherzusehen und darauf reagieren zu können. Wir kaufen Halbleiter inzwischen schon selbst und stellen sie unseren Lieferanten zur Verfügung. Das haben wir früher nicht gemacht.
Weil wir als Nutzfahrzeughersteller die Klimaziele sonst verfehlen werden. Wenn wir die Energiewende wirklich wollen, müssen wir schnell auf erneuerbare Kraftstoffe wie Biomethan gehen. Wir müssen uns mächtig ins Zeug legen, um am Ende die 15 Prozent CO2-Reduktion bis 2025 und die 30 Prozent bis 2030 zu erreichen, die vermutlich schon bald auf mindestens 50 Prozent als Zielwert angehoben werden. Es ist wie bei der Entenjagd: Man zielt immer etwas höher, schießt also dorthin, wo sie hinfliegen. Auch wir müssen mit höheren Ansprüchen ins Rennen gehen, um am Ende die Reduktionsziele von 15 und 30 oder 50 Prozent zu schaffen.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Die Lade-und Betankungsinfrastruktur für Lkw steckt noch in den Kinderschuhen und ohne diese wird auch kaum jemand nennenswerte Volumen an E-Trucks bestellen. Selbst wenn die Industrie gemeinsam jedes Jahr 25.000 Fahrzeuge und mehr ab 2025 produziert, macht das am Bestand von 2,5 Millionen Lkw in Europa in den nächsten Jahren nur eine kleine Quote aus. Erneuerbare Kraftstoffe sind verfügbar und werden heute schon eingesetzt. Alle drei Antriebe müssen daher hochgefahren werden: batterieelektrische, Brennstoffzelle und erneuerbare Kraftstoffe.
Wir werden einen komplett neuen Cursor 13-Motor vorstellen, der sowohl mit Diesel, als auch mit einer Mischung aus Wasserstoff und Methan betrieben werden kann. Wenn wir das Klima retten wollen, müssen wir alle alternativen Technologien und Energieträger nutzen. Das heißt nicht, dass wir es uns im Camp der ewigen Dieselfans bequem machen. Es wäre nur grob unverantwortlich, beim Klimaschutz erneuerbare Kraftstoffe für den Güterverkehr auszuklammern. Hier liegen noch enorme Potenziale für die Produktion von Biomethan, wenn wir uns die Mengen aus Abfällen oder der Tiefhaltung anschauen.
Wir werden mit Nikola eine batterieelektrische 4x2-Zugmaschine präsentieren – also nicht die US-amerikanische, sondern schon die europäische Variante. Ab Mitte nächsten Jahres soll sie zu den Kunden kommen. Ende 2019 hatten wir diesen Zeitplan genannt und bislang jeden Meilenstein gehalten. Wir werden auch einen 6x2-Brennstoffzellen-Truck zeigen.
Wir gehen beim Brennstoffzellen-Truck auf 6x2, weil wir dadurch die zulässigen Achslasten auf beiden Hinterachsen einhalten, bei voller Nutzlast von 26 Tonnen im klassischen Sattelzug. Die Sattelzugmaschine wird mit Batterien, Hochvolttechnik und Wasserstofftanks um die zwei bis drei Tonnen mehr wiegen als eine Sattelzugmaschine mit Diesel-Antrieb.
Keine elektrische Sattelzugmaschine als 4x2 mit praktikabler Reichweite wird die zulässigen Achslasten bei voller Nutzlast einhalten. Ein weiterer Treiber für die 6x2-Konfiguration ist der Einsatz des 700 bar-Wasserstoffes. Das europäische Betankungsnetz wird auf Basis von 700 bar gasförmigem H2 ausgebaut werden. Damit braucht es fünf bis sechs Tanks für 70 bis 90 Kilogramm H2, die eine Reichweite von 800 Kilometern und mehr ermöglichen. Das Fahrzeug für die IAA wird signifikant anders aussehen als der erste Prototyp, den wir voriges Jahr zur Werkseröffnung in Ulm ausgestellt hatten. Wir sind sehr gespannt auf die Rückmeldung von Kunden und Fahrern.
Nein, das Fahrzeug mit seinen Brennstoffzellen von Bosch durchläuft unter anderem bei Anheuser-Busch in Kalifornien zurzeit Praxiseinsätze. Diesem Alpha-Prototypen folgt nun mit dem Beta-Truck die nächste Evolutionsstufe, zur Serie geht es dann mit dem Gamma. Wir entwickeln uns immer weiter.
Wir haben bisher noch keine Bestellungen angenommen und werden dies auch erst im Herbst machen. Auslieferungen an Kunden folgen im 3. Quartal 2023. Wir brauchen keine Titelstorys über die meisten Bestellungen die Huckepack auf Subventionspaketen laufen. Wir wollen lieber zuverlässig liefern.
Zur Person
- Gerrit Marx ist CEO der zu Jahresbeginn neu gegründeten Iveco Group. Sie ging als Spin-off aus dem Konzern CNH Industrial hervor, zu dem Iveco zuvor gehört hatte.
- Zuvor verantwortete er ab Januar 2019 bei CNH Industrial das Geschäft mit Nutz- und Sonderfahrzeugen sowie in Personalunion als CEO das der damaligen CNH-Tochter Iveco.
- Der 46-Jährige sammelte Berufserfahrungen sowohl als Unternehmensberater als auch in der Lkw-Industrie. Mehr als sieben Jahre arbeitete er als Berater für McKinsey, sechs Jahre als Partner für den Finanzinvestor Bain Capital.
- Was die Fahrzeugindustrie angeht, arbeitete Marx vier Jahre in leitenden Funktionen bei Daimler Truck und später für Skoda. Bei Daimler Truck war er zuletzt als CEO für das China-Geschäft verantwortlich gewesen, bei Skoda steuerte er ebenfalls die Aktivitäten im Reich der Mitte.
- Marx studierte an der RWTH in Aachen, wo er seinen Diplom-Ingenieur und seinen Diplom-Kaufmann machte. Anschließend promovierte er in Betriebswirtschaft an der Universität zu Köln.