Jans Blog Rücksichtnahme ist keine Einbahnstraße

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath
Meinung

Lkw sollen nicht nur technisch sicher werden, um Radfahrerunfälle zu vermeiden. In Zukunft sollen sie innerorts auch nur noch in Schrittgeschwindigkeit abbiegen dürfen. Eine Fahrlehrerin und ein Verkehrsanwalt bezweifeln den Erfolg dieses Konzepts.

Heute, am 11. Februar 2020, gab es in Berlin eine Pressekonferenz: Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) und der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) haben ein gemeinsames Forderungspapier vorgestellt, wie tödliche Abbiegeunfälle zwischen rechtsabbiegenden Lkw und Radfahrern zukünftig vermeiden werden können. Allerdings konnte sich der ADFC nicht zurückhalten und hat die Idee bereits vorab an die Medien gegeben.

Kreuzungen umbauen

Seit letzter Woche ist es also raus: „In einem gemeinsamen Forderungskatalog sprechen sich die Verbände dafür aus, Kreuzungen so umzubauen, dass Lastwagenfahrer und Radfahrer einen besseren Überblick haben. Dies könne etwa durch vorgezogene Haltelinien geschehen, damit Radfahrer nicht im toten Winkel der Laster stünden. Zudem müssten Lkw-Abbiegeassistenten besser gefördert werden, bevor sie ab 2022 schrittweise Pflicht würden. Alle zwei Wochen wird laut ADFC in Deutschland eine Radfahrerin oder ein Radfahrer durch einen abbiegenden Lkw getötet.“

BGL-Vorstandssprecher Dirk Engelhardt sagt dazu: „ADFC und BGL eint das Anliegen, die angespannte Situation auf den Straßen zu entschärfen und Radfahrende besser vor schrecklichen Kollisionen mit Lastwagen – und damit auch die Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrer vor den traumatischen Folgen – zu schützen. Deshalb werben wir für eine sicherheitsoptimierte Radwegeinfrastruktur und fordern nicht nur unsere Mitgliedsunternehmen sondern alle Lkw-Besitzer auf, zeitnah in leistungsfähige Abbiegeassistenzsysteme zu investieren, um die Unfallzahlen dauerhaft zu minimieren.“

Wandel des gesellschaftlichen Klimas

Ich persönlich kann es nur befürworten, würde sich hinter der gemeinsamen Aktion nicht im Grunde ein rasanter Wandel des gesellschaftlichen Klimas verbergen, den nun die Vertreter der Radfahrer vorgeben. Sei es beim 58. Verkehrsgerichtstag in Goslar (hier die diesjährigen Empfehlungen) der grüne Politiker Cem Özdemir, seit Januar 2018 Vorsitzender des Verkehrsausschusses im deutschen Bundestag, der nicht nur für die serienmäßige Ausstattung von Lkw mit Abbiegeassistenten plädierte, sondern für eine vollkommene Verkehrswende. Für ein Nebeneinander von Lkw, Pkw, Fahrrädern, E-Scootern und Fußgängern brauche man mehr Platz. Allerdings mit einer Betonung auf den Zweiradverkehr.

Das Ringen um den städtischen Raum

Dass aktuell um den vor allem städtischen Raum mittlerweile heftig gerungen wird, zeigte die recht kurzweilige Podiumsdiskussion „Die knappe Ressource Parkraum – Kampf bis aufs Blut?" zwischen Carsten Hansen, Leiter Innenstadtlogistik Berlin vom Bundesverband Paket & Express Logistik e.V., und Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV).

Konsumverhalten vs. Lieferverkehr

Das größte Dilemma: Während die Menschen zwar immer mehr Pakete online bestellen, beklagen sie sich zunehmend darüber, dass die Zahl der Transporter, die diese Pakete natürlich bislang frei Haus liefern, zunehmen und auch in den städtischen Vororten mangels vorhandener und deutlich ausgewiesener Ladezonen in der zweiten Reihe parken müssen – was wiederum, etwa durch plötzliches Türöffnen, die Radfahrer gefährdet. Ein Versuch von Paketlogistikern, die eingehenden Pakete nicht mit jeweils unterschiedlichen Fahrzeugen der Unternehmen zu transportieren, sondern zu bündeln, habe letzten Endes auch nicht zu weniger Verkehren geführt. Weil es einfach zu viele Pakete sind – und jedes Jahr mehr werden.

Wien macht Ernst

Auch die österreichische Hauptstadt Wien macht jetzt Ernst. Spätestens im April sollen Lkw über 7,5 Tonnen nicht mehr ohne einen Abbiegeassistenten in die Stadt fahren, die Frächter beschweren sich bereits gegen die steigenden Kosten für die Investition in mehr Sicherheit. Was ich wiederum nicht wirklich nachvollziehen kann, eben so wenig, wie sich letzten Jahr laut Autobild einige Unternehmer, deren Fahrer einen Abbiegeunfall hatten, offenbar trotzdem gegen die möglicherweise lebensrettende Technik ausgesprochen haben.

Es gibt mittlerweile sehr viele gute nachrüstbare Systeme, und im Prinzip darf es eigentlich keine Frage sein, diese Technik so bald wie möglich einzusetzen. Vorbildliche Firmen wie Rothermel aus Östringen rüsten bereits seit Verfügbarkeit alle neuen Lkw aus, auch Adams Transporte aus Niederzissen, die wir im FERNFAHRER 3/2020 vorstellen, haben sich längst für diesen freiwilligen Schritt entschieden. Daher fordert der BGL eben auch mehr Fördergelder, damit Unternehmen schneller Abbiegesysteme einsetzen können.

Der Lkw als Feindbild

Und dennoch – der Lkw, der nun einmal die sogenannten Verbraucher an 365 Tagen pro Jahr mit Gütern versorgt, gerät in der gesellschaftlichen Wahrnehmung immer öfter ins Abseits. Die Stimmen der Fahrer, die sich über eine zunehmende Rücksichtslosigkeit der Radfahrer in den Städten beklagen, werden nicht gehört, während im Stadtbild immer öfter Radfahrer mit Aufklebern „Lkw raus aus der Stadt“ zu sehen sind. Selbst auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar sprachen Verkehrspsychologen im Arbeitskreis „Aggressivität im Straßenverkehr“ davon, dass Radfahrer mittlerweile praktisch in Watte gepackt und zu kleinen Königen der Straßen erzogen würden, während sich gleichzeitig das Feindbild Lkw gesellschaftlich etabliert. Ein Vertreter des ADFC stellte, wenn auch im Hintergrund, allen Ernstes in Frage, warum die Schwächeren nachgeben sollten, also an einer Kreuzung lieber auch einmal stehen blieben, statt auf ihrer Vorfahrt zu bestehen, wenn es doch Pflicht der Stärken sei, jederzeit aufzupassen.

Abbiegen in Zeitlupe

In der Rubrik „Recht Aktuell“ im Heft 3/2020 haben wir uns deshalb unter dem Titel „Abbiegen in Zeitlupe“ mit den juristischen Folgen befasst, die auf Lkw-Fahrer zukommt, wenn wohl noch im Februar die Novelle der Straßenverkehrsverordnung umgesetzt wird, die nun gesetzlich verankert, dass zur Vermeidung von schweren Unfällen alle Fahrzeuge über 3,5 Tonnen, die innerorts rechts abbiegen, künftig nur noch in Schrittgeschwindigkeit (7 bis 11 km/h) fahren dürfen. Verstöße kosten 70 Euro Bußgeld, und es gibt einen Punkt in Flensburg.

Dagegen äußert der Fachanwalt für Verkehrsrecht, Matthias Pfitzenmaier, erste Bedenken. „Da der Verstoß gegen die Schrittgeschwindigkeit beim Rechtsabbiegen auch mit einem entsprechenden Bußgeld bei Nichteinhaltung belegt ist, ist grundsätzlich auch denkbar, dass die Polizei dies kontrolliert. Allerdings dürfte dies ein Bußgeldtatbestand sein, der nicht einfach nachzuweisen ist, da konkrete Angaben zu gefahrenen Geschwindigkeiten beim Abbiegen nur schwer ermittelbar sein dürften, außer es wird dann im Folgenden der digitalen Tacho des Lkw ausgelesen. Fraglich wird auch sein, welchen räumlichen und zeitlichen Bereich der Begriff des Abbiegens umfasst.“

Tina Freter Foto: Tina Freter

Erfahrungen einer Fahrlehrerin

Tina Freter, von 2002 bis 2009 Lkw-Fahrerin im Fernverkehr, ist seit 2009 Fahrlehrerin für eine Fahrschule in Hallstadt bei Bamberg. Mit einem Actros-Gliederzug hat sie bereits erste Erfahrungen beim Abbiegen in Schrittgeschwindigkeit gesammelt. Abgesehen von gestressten Autofahrern, die bereits ungeduldig hupen, wenn ein Lkw nun länger als sonst eine Kreuzung blockiert, sieht sie eine neue Gefahr: Grundsätzlich bildet sie so aus, dass ihre Fahrschüler Radfahrer, die sich vor oder neben dem Lkw bewegen, nicht mehr überholen. „Wenn wir nun in Schrittgeschwindigkeit abbiegen, ergibt sich ein neues Problem“, sagt Freter. „Und zwar die Unvernunft dieser schwächeren Verkehrsteilnehmer. Wir warten sichtbare Radfahrer und Fußgänger ab, beginnen danach den Abbiegevorgang, doch dann kommen noch Nachzügler, die vorher nicht sichtbar waren.“

Noch schnell reinquetschen

Wer sich innerorts bewegt, der weiß, dass es viele Stellen gibt, wo Radfahrer und Fußgänger aus allen möglichen Ecken spontan auftauchen können, schreibt Freter. „Haben sie früher einfach kurz gewartet, bis wir weg waren, quetschen sie sich jetzt noch schnell vor dem Lkw durch, weil wir so langsam sind. Sie sehen es gefühlt als Einladung, noch schnell vor dem Lkw über die Kreuzung zu huschen – was äußerst gefährlich ist, da ein Sattelzug eben jetzt etwas abgeknickt rollt und der Fahrer die Radfahrer und Fußgänger, die nun in dieser Situation von hinten kommen, nicht mehr sehen kann.

Jeder, der behauptet, dass man in dieser Situation sehr wohl einen Radfahrer erkennen kann, den lade ich dazu einmal einen Tag mit mir mit dem Lkw durch die Stadt zu fahren. Wohlgemerkt: Es geht um die nicht sichtbaren Radfahrer und Fußgänger. Taucht ein Radfahrer oder Fußgänger plötzlich auf und wird gesehen, dann wird selbstverständlich nochmal angehalten, damit dieser die Straße gefahrlos überqueren kann.“

Verfahren gegen Lkw-Fahrer eingestellt

In der öffentlichen Diskussion sind die Fronten längst verhärtet. "Der Lkw-Fahrer muss den kompletten Bereich um sich herum im Blick haben", sagt Freter. "Dazu muss er auch mal nach vorne und nach links beobachten. Wenn sein Blick ausschließlich im rechten Spiegel klebt, dann kann er links oder vorne ebenso gefährliche Dinge übersehen. Aus diesem Grund müssen Lkw- Fahrer, an der Ampel wartend, ständig wechselnde Blicke auf den gesamten Verkehrsraum um sich werfen. Da kann es passieren, dass man im falschen Moment leider nicht nach rechts geschaut hat. Kein Lkw-Fahrer fährt mit Absicht über einen Menschen", betont Freter.

In dieser Situation können wirklich nur Abbiegeassistenten helfen. Sie können wahrscheinlich auch noch eingreifen, wenn sich die Radfahrer nicht an die Regeln halten. So wie in diesem tragischen Fall in Aachen: Erst im Laufe der Verhandlung wurde festgestellt, dass die Radfahrerin die Vorfahrt missachtet hatte. Das Verfahren gegen den Fahrer wurde eingestellt.

Desinteresse beim ADFC

Leider, das war auch meine persönliche Erfahrung beim Verkehrsgerichtstag in Goslar, zeigt der ADFC bislang wenig Interesse daran, sich einmal in die Situation der Lkw-Fahrer im innerstädtischen Verkehr zu begeben, um aus deren Sicht das oft lebensgefährliche Verhalten der Radfahrer live zu erleben. Wenn, dann müssten schon die Lkw-Fahrer sich mit einem Drahtesel auf die Radwege wagen, um das verantwortungslose Verhalten ihrer Kollegen zu beobachten. Gegen diese leider hartnäckige Verweigerung, die allerwichtigste Regel der Straßenverkehrsordnung, die gegenseitige Rücksichtnahme, ist kein Kraut gewachsen.

„Ich stimme der Fahrlehrerin insoweit zu, als es vielleicht sinnvoller gewesen wäre, ein Verbot für Zweiradfahrer auszusprechen, nämlich dahingehend, dass diese sich nicht mehr rechts neben einem abbiegenden Lkw einordnen dürfen, sondern hinter diesem warten müssen“, sagt Anwalt Pfitzenmaier. „Dies ist aus meiner Sicht der einzig sinnvolle und wahrscheinlich auch tatsächlich funktionierende Weg, um tödliche Abbiegeunfälle zu vermeiden.“

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