Aufgrund akuten Fahrermangels muss in diesem Winter in Großbritannien mit einer Versorgungskrise gerechnet werden. Insgesamt sollen in Europa 400.000 Fahrer fehlen.
Die Transportbranche im Vereinigten Königreich hatte bereits seit Monaten Alarm geschlagen, jetzt sind Fahrer der britischen Armee im Einsatz, damit Tankstellen ausreichend mit Sprit versorgt werden können. Bereits zuvor hatte es immer wieder Bilder von leeren Regalen in Supermärkten gegeben, weil deren Belieferung nicht mehr wie bisher sichergestellt werden kann. Aber auch im übrigen Europa fehlen viele Fahrer. Ein Umdenken scheint angesagt. Großbritannien jedenfalls will das Problem nur kurzfristig mit Personal aus dem Ausland lösen.
Armee-Soldaten im Einsatz
Lange Schlangen an den Zapfsäulen hatten auf der Insel jüngst für große Aufregung gesorgt. Die Regierung forderte die Bevölkerung auf, wie üblich zu tanken und sich nicht zu bevorraten. Es gebe nicht zu wenig Kraftstoffvorräte, sondern lediglich zu wenig Fahrer für ihren Transport, hieß es. Genützt hat das nicht viel. Inzwischen arbeiten in dem Sektor 200 Soldaten, darunter 100 Fahrer, die zuvor bei Speditionen im ganzen Land eingewiesen wurden.
Brexit als Auslöser
Die jetzige Misere wurde nach Einschätzung von Transportunternehmen durch den Brexit ausgelöst, belegt eine Umfrage des Verbands Road Haulage Association (RHA) unter seinen Mitgliedern. Die Johnson-Regierung macht jedoch lieber die Coronakrise und die damit verbundenen Störungen der Lieferketten verantwortlich und wehrte sich lange gegen die Forderungen der Branche, Fahrern aus Europa den Zugang zum Arbeitsmarkt wieder zu erleichtern. Inzwischen führt daran aber auch für sie kurzfristig kein Weg mehr vorbei.
Gefahrgutfahrer dürfen kommen
300 Tankwagenfahrern wird aufgrund der „außergewöhnlichen Umstände“ erlaubt, ab sofort bis Ende März 2022 auf die Insel zu kommen. Obwohl sich Regierungsangaben zufolge die Spritnachfrage stabilisiert hat und inzwischen mehr Kraftstoff geliefert als verkauft wird, gebe es in einigen Landesteilen immer noch Probleme. Deshalb dürfen Gefahrguttransporteure jetzt ausgebildete Fahrer suchen und ihre Bewerbungen beim Wirtschaftsministerium einreichen. Dieses stelle dann nach der Einwanderungskontrolle einen Arbeitsvertrag aus, teilte die Regierung mit.
Schwindelerregende Bezahlung
Ob die befristeten Einladungen ziehen, wird vielfach angezweifelt. Allerdings bewegen sich die Löhne im Vereinigten Königreich auf einem schwindelerregenden Niveau. Fahrer im Gefahrgutbereich in einem regulären Anstellungsverhältnis gehen Branchenkennern zufolge längst mit umgerechnet etwa 5.000 Euro monatlich nach Hause. Wer kurzfristig im Einsatz ist, wird noch wesentlich besser bezahlt. Bereits in der vergangenen Woche seien an Stoßtagen Löhne von umgerechnet 350 Euro pro Tag aufgerufen worden, berichtet der Chef des Bundesverbands Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), Prof. Dirk Engelhardt. Zwei Tage später sei der Stundenlohn auf über 63 Euro geklettert. Damit komme ein Fahrer auf den Monat umgerechnet auf mehr als 9.000 Euro.
4.700 Fahrer für Lebensmittel
Die britische Regierung versucht in der Versorgungskrise gegenzusteuern und will die Stimmung im Land angesichts der bevorstehenden Weihnachtszeit vor dem Eskalieren retten. Deshalb dürfen ab Ende Oktober auch 4.700 Fahrer für Lebensmitteltransporte ins Land. Bis zum 28. Februar. Auch 5.500 Arbeitnehmer, die Geflügel schlachten, sind jetzt willkommen. Aber weil der traditionelle Christmas-Turkey, der Truthahn zu Weihnachten, am Jahresende längst aufgegessen ist, müssen sie schon am 31. Dezember wieder raus.
Fahrergehälter müssen auch in Deutschland hoch
„Ich bin fest davon überzeugt, dass Großbritannien mit diesen Maßnahmen keinen Erfolg haben wird“, sagt Engelhardt. Das Land stehe vor den gleichen Problemen wie Deutschland oder das restliche Europa, allerdings beschleunigt durch den Brexit in einer noch gravierenderen Form. Klar sei: „Die Gehälter müssen hoch, das Image auch, und die Rahmenbedingungen müssen verändert werden.“ Auch in Deutschland zeichne sich ab, dass sich das Fahrerproblem verschärfe, bei einigen Unternehmen stünden bereits bis zu zehn Prozent der Flotte still.
Studie: 400.000 Fahrer fehlen in Europa
Der britische Marktanalytiker Transport Intelligence (TI) hielt in einer Studie Ende August fest, dass in Europa insgesamt mehr als 400.000 Fahrer fehlen. Spitzenreiter ist nicht etwa Großbritannien, sondern Polen mit knapp 124.000 offenen Stellen im Jahr 2020, was einer Quote von etwa 37 Prozent entspricht. Es folgt das Vereinigte Königreich mit 60.000 bis 76.000 Vakanzen, gleich auf dem dritten Platz findet sich Deutschland wieder, wo etwa 45.000 bis 60.000 Fahrer fehlen sollen. Hinzukommen Frankreich, wo 43.000 Stellen unbesetzt sind oder auch Italien und Spanien mit jeweils 15.000.
Weniger Fahrer bei mehr Transporten
„Der Fahrermangel beeinträchtigt den Straßengüterverkehr seit etwa 15 Jahren“, hält TI nüchtern fest. Der Bestand an Lkw-Fahrern schrumpfe, während gleichzeitig die Nachfrage nach Transportleistungen steige, und die Pandemie habe die besorgniserregende Lage weiter verschärft. „Neue Fahrer konnten sich nicht ausbilden lassen, keinen Führerschein machen, und die Covidbeschränkungen haben den Beruf noch weniger attraktiv gemacht", heißt es.
Fahrermangel ist ein globales Problem
Aber die Fahrerkrise ist ein globales Problem, unterstreicht die IRU, der Weltdachverband der Transportwirtschaft. Am schlimmsten hat es 2020 Eurasien getroffen, wo 20 Prozent der Fahrerstellen nicht besetzt werden konnten, China war mit vier Prozent offenen Stellen noch gut dran. In Europa ging die Zahl der unbesetzten Lkw-Fahrerstellen 2020 pandemiebedingt von 24 Prozent auf sieben Prozent zurück. Für 2021 gingen europäische Transportunternehmen von einem Fahrermangel in Höhe von 17 Prozent aus. Höher wurden die Werte für die Türkei mit 20 Prozent und für Russland mit 24 Prozent eingeschätzt; in Usbekistan rechnete man sogar mit einem Mangel von fast einem Drittel.
Wirtschaftsminister will gute Löhne
Der britische Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng jedenfalls fährt eine klare Linie. Er will eine hoch qualifizierte Wirtschaft mit guten Löhnen aufbauen. Er will, dass die Arbeitgeber langfristig in die heimische Arbeitnehmerschaft investieren und nicht auf Arbeitskräfte aus dem Ausland setzen. „Visa sind auf Dauer keine Lösung, Reformen innerhalb der Branche sind unerlässlich“, sagte er. Gemeinsam mit der Transportindustrie will er langfristige Lösungen finden. Dazu gehört es auch, die Standards für Lkw-Parkplätze zu verbessern und das Wohlergehen der Beschäftigten insgesamt zu erhöhen.